Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und trotzdem ist es Liebe

Und trotzdem ist es Liebe

Titel: Und trotzdem ist es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Giffin
Vom Netzwerk:
habe zwei gute Gründe, zu glauben, dass es mir schlechter geht als ihm. Über den ersten Grund rede ich mit Jess eines Abends beim Essen vom chinesischen Bringservice; ich erinnere sie daran, dass Ben mit der Fähigkeit gesegnet ist, sich gegen Schmerz abzuschotten und in ein behagliches Taubheitsgefühl zu versenken. Man hört ja immer, es sei nicht gesund, seine Gefühle so zu verdrängen, aber immer wenn ich Ben leichtfüßig auf der Oberfläche seiner Trauer dahingleiten und meisterhaft damit zurechtkommen sehe, bin ich unwillkürlich neidisch. Ich habe es nie geschafft, diesen Teil meines Gehirns einfach auszuschalten. Ich denke an letztes Jahr, als bei Bens Cousin und bestem Freund Hodenkrebs im vierten Stadium festgestellt wurde. In der ganzen furchtbaren Zeit danach blieb Ben stoisch, beinahe trotzig, sogar noch, als mitten in der Nacht der Anruf kam und wir erfuhren, dass Mark nicht mehr da war.
    Als Ben nach dem kurzen Telefonat mit Marks Mutter wieder ins Bett kam, fragte ich ihn, ob er darüber reden wolle. Ben schüttelte den Kopf, knipste das Licht aus und sagte: «Eigentlich nicht. Es gibt nicht viel zu sagen.»
    Ich wollte antworten, es gebe eine Menge zu sagen. Wir könnten über Marks viel zu kurzes, aber erfülltes Leben sprechen. Wir könnten über Bens Kindheitserinnerungen an den Cousin sprechen, der mehr wie ein Bruder für ihn gewesen war. Über ihre Zeit am Brown College, nachdem beide auf das College ihrer ersten Wahl verzichtet hatten, damit sie zusammen studieren könnten. Wir könnten über das Ende reden und wie schmerzhaft es gewesen war, Mark dahinschwinden zu sehen. Wir könnten darüber reden, was als Nächstes kommen würde: die Grabrede, an der Ben – das wusste ich – schon seit Wochen im Geiste geschrieben hatte.
    Aber Ben sagte nichts. Ich spürte im Dunkeln, dass er hellwach war, und so blieb ich auch wach für den Fall, dass er es sich anders überlegte und doch reden oder wenigstens weinen wollte. Aber er weinte nicht. Nicht in dieser Nacht und auch nicht am nächsten Tag. Nicht einmal bei der Beerdigung, als seine wunderschöne Grabrede alle andern zu Tränen rührte.
    Es dauerte sechs lange Monate, bis Ben zusammenbrach. Wir standen im Supermarkt vor dem Müsli-Regal, und er nahm eine Schachtel Frosted Mini-Wheats in die Hand. In seinem Blick lag nackte Verzweiflung. Ich brauchte ihn nicht zu fragen, woran er dachte. Er schaffte es, nach Hause und in unser Schlafzimmer zu kommen, bevor ich das seltsame und furchterregende Geräusch hörte, mit dem ein erwachsener Mann sein Schluchzen unterdrückt. Als er geraume Zeit später wieder herauskam, waren seine Augen rot und geschwollen. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er presste mich an sich und sagte mit brüchiger Stimme: «Verflucht, er fehlt mir so sehr.»
    «Nicht dass ich unsere Trennung mit Marks Tod vergleichen will», sage ich, als ich die Geschichte erzählt habe.
    Jess nickt. «Ich weiß. Aber wenn ihr euch wirklich trennt, wird es sein, wie wenn jemand stirbt.»
    «Ja. Zumal da Ben und ich nicht zu denen gehören, die ‹in Kontakt mit dem Ex› bleiben», sage ich. «Wenn es aus ist, ist es aus. Ich will nicht Bens gute Freundin sein.»
    Jess seufzt. «Na ja. Vielleicht ist es nicht aus.»
    «Ich glaube doch», sage ich. «Überleg mal. Ben hat sechs Monate gebraucht, um der Tatsache ins Auge zu sehen, dass Mark nicht mehr da war. Wenn er zulassen kann, zu spüren, dass ich ihm fehle, ist es vielleicht längst zu spät.»
    Jess macht ein sorgenvolles Gesicht, und das lässt mich an den zweiten Grund denken, weshalb ich glaube, dass Ben weniger leidet als ich. Aber darüber spreche ich mit Jess nicht. Ich habe es noch nie laut ausgesprochen – oder auch nur in mein Tagebuch geschrieben. Auf einer bestimmten Ebene war es mir immer bewusst, aber ich habe mir nie gestattet, darüber nachzudenken. Bis jetzt hatte das auch wenig Sinn.
    Der zweite Grund ist dieser: Ich bin ziemlich sicher, dass ich Ben mehr liebe als er mich. Ich weiß, er liebt mich sehr. Ich weiß, er liebt mich mehr, als er Nicole oder sonst jemanden geliebt hat. Aber ich glaube trotzdem, dass ich ihn mehr liebe. Genau kann man so etwas nie wissen, denn man kann ja nicht alle Daten einer Beziehung in einen Computer eingeben, der dann eine definitive Antwort ausspuckt. Liebe lässt sich nicht quantifizieren, und wenn man es versucht, kann es leicht passieren, dass man sich auf irreführende Faktoren konzentriert. Auf Dinge, die in Wirklichkeit mehr

Weitere Kostenlose Bücher