Und trotzdem ist es Liebe
mit Persönlichkeit zu tun haben – mit der Tatsache, dass manche Leute in einer Beziehung einfach ausdrucksvoller oder emotionaler oder bedürftiger sind. Aber jenseits von Nebelwänden dieser Art gibt es eine Antwort. Liebe ist selten – fast nie – ein ausgeglichenes Verhältnis. Immer liebt einer mehr als der andere.
In unserer Beziehung bin ich es. Bei manchen Paaren kann es hin- und herwechseln. Aber bei uns – am Anfang, in der Mitte und am Schluss – war ich, glaube ich, diejenige, die ihn letztlich mehr geliebt hat. Ben würde sagen, das sei lächerlich – aber wenn er irgendwie gezwungen wäre, ehrlich zu antworten, würde er wahrscheinlich zugeben, dass ich recht habe. Ich glaube, er würde mir außerdem darin zustimmen, dass es nichts mit unseren Vorzügen als Person zu tun hat. Ich glaube, wir sind beide ungefähr gleich gescheit, erfolgreich, unterhaltsam und attraktiv (womit die großen vier im groben Geschäft des Partnervergleichs vermutlich umrissen sind). Ich bin Ben ungefähr ebenbürtig und habe mich immer sicher, selbstbewusst und seiner wert gefühlt. Aber trotzdem. Es ist zufällig so, dass ich Ben ein bisschen mehr liebe als er mich, und das bewirkt, dass ich mehr Angst davor habe, ihn zu verlieren, als umgekehrt.
Das bringt mich zu einem weiteren Punkt. Ich glaube, ich hatte immer das irrige Gefühl, dass Sorge und Angst als eine Art Versicherung dienen können. Unterbewusst hänge ich der Vorstellung an, wenn man sich wegen etwas Sorgen macht, ist es weniger wahrscheinlich, dass es tatsächlich passiert. Aber ich gebe gern zu, dass es so nicht läuft. Das, was man am meisten fürchtet, kann irgendwann trotzdem passieren. Und wenn es passiert, fühlt man sich, eben weil man es befürchtet hat, umso mehr betrogen.
Fünf
Die Trauer kennt eine Menge Abwehrmechanismen. Da gibt es Schock, Verleugnung, man lässt sich volllaufen, man reißt Witze, man flüchtet sich in seine Religion. Und dann steht im Hintergrund immer noch die alte Allzweckkiste: der blinde Glaube an das Schicksal, die Überzeugung, «alles geschieht aus einem Grund».
Aber mein Lieblingsabwehrmechanismus war immer der Zorn mit all seinen vertrauenswürdigen Ablegern: selbstgerechte Empörung, Verbitterung, Groll.
Ich weiß noch, wie mir zum ersten Mal auffiel, dass Leute in ihrer Trauer wütend werden. Ich war im Kindergarten, und Jimmy Moores Dad war soeben an einem Herzinfarkt gestorben, als er den Weihnachtsbaum aus der Garage ins Haus schleppte. Ein paar Wochen später trafen meine Mutter und ich Jimmy und seine Mutter im Supermarkt. Ich spähte mit morbider Neugier hinter unserem Einkaufswagen hervor zu Jimmy hinüber, und meine Mutter fragte Mrs. Moore, wie es ihr gehe. Mrs. Moore schüttelte den Kopf und ballte die Faust. «Ich bin so wütend auf Gott», sagte sie.
Jimmy und ich wechselten einen Blick und schauten dann zu Boden. Ich glaube, wir waren beide erschrocken. Und ich weiß, ich hatte ein bisschen Angst. Ich hatte noch nie gehört, dass jemand sich mit Gott anlegte. Es schien mir eine gefährliche Sache zu sein. Außerdem, das weiß ich noch, dachte ich in diesem Moment, mit Jimmys Mutter müsse irgendetwas Furchtbares nicht stimmen, wenn sie in diesem Augenblick etwas anderes als reine, unverfälschte Trauer über den Tod ihres Mannes empfand. Wut schien mir hier fehl am Platz.
Aber ungefähr sechs Jahre später, ich war elf, begriff ich, wie nah diese beiden Gefühlsregungen miteinander verwandt sind. Es war das Jahr, in dem meine Mutter «angeblich» (sie bestreitet es bis heute) eine Affäre mit dem Leiter meiner Grundschule hatte, mit Mr. Higgins. Abgesehen vom Verlust der Eltern oder von einer grässlichen Entstellung ist das ungefähr das Schlimmste, was einer Fünftklässlerin zustoßen kann, zumal wenn sie ungefähr die Letzte in der Schule ist, die davon erfährt. Ich habe mir niemals vorgemacht, meine Eltern seien perfekt, denn ich verglich sie häufig mit den idealen Eltern, die in Büchern vorkamen. Ich wünschte mir, mein Vater wäre ein bisschen mehr wie Atticus Finch und meine Mutter wollte sich ab und zu benehmen wie Ramona Quimbys fürsorgliche, verständnisvolle Mutter in meinen Lieblingsbüchern von Beverly Cleary. Aber alles in allem war ich zufrieden mit dem Los, das ich mit meinen Eltern gezogen hatte. Es gefiel mir, dass mein Vater am Wochenende immer etwas Unterhaltsames mit uns unternahm, statt im Garten zu arbeiten oder im Fernsehen Football zu schauen wie die
Weitere Kostenlose Bücher