Und trotzdem ist es Liebe
auch nie wieder an. Aber es war ziemlich klar, wer hier wen abserviert hatte. Das ist es immer.
Ich bin immer noch peinlich berührt, wenn ich an jene Nacht denke, und ich frage mich, was passiert wäre, wenn ich nicht beim Sex zu weinen angefangen hätte. Nicht dass ich glaube, Anders und ich wären füreinander bestimmt gewesen oder so etwas. Aber ich glaube, ich habe etwas vermasselt, das eine bedeutsame Beziehung hätte werden können – oder wenigstens eine dauerhafte Freundschaft.
Eingedenk all dessen nehme ich mir vor, den gleichen Fehler nicht auch mit Richard zu begehen. Nie wieder will ich beim Sex in Tränen ausbrechen (es sei denn, weil er so gut ist – Ben hat mich einmal zum Weinen gebracht). Ich will, dass die Grenzen klar bleiben. Ich weiß, ich werde noch lange an Ben denken, aber ich bin sehr dafür, dass diese Gedanken mich nicht im Bett mit einem anderen Mann überkommen. Ich will den zerbrechlichen Anfang mit Richard nicht vergiften. Nicht dass meine Beziehung zu Richard etwas besonders Zerbrechliches hätte – aber per definitionem ist eben jeder Anfang zerbrechlich.
Und als ich gerade glaube, die Holperstrecke allmählich hinter mir zu haben, kommt etwas mit der Post, das mich wieder völlig durcheinanderbringt. Ich erkenne Annies Handschrift sofort, und ich habe Gewissensbisse, weil ich ihre Anrufe in letzter Zeit nicht erwidert und ihre Einladungen zum Lunch nicht angenommen habe. Annie und Ray sind die einzigen Freunde, die mitten ins Kreuzfeuer der Scheidung geraten sind – die keiner von uns beiden ganz für sich beanspruchen kann, weder Ben noch ich. Alle anderen sind entweder mehr meine oder mehr seine Freunde, und wir haben die unausgesprochene Übereinkunft, dass ich mich von seinen Freunden fernhalte und er meine in Ruhe lässt. Einfach aus Respekt voreinander. An all das muss ich jetzt denken, als ich den Umschlag aufreiße. Ich rechne mit einem Brief. Annie ist groß darin, ohne jeden Anlass zu schreiben, und sie beklagt sich oft darüber, dass die Kunst des Briefeschreibens im Zeitalter der E-Mail verkümmert. Aber es ist kein Brief. Es ist die Einladung zu Raymond jrs. Taufe.
«Scheiße», sage ich laut, denn ich weiß, dass Ben heute Abend die gleiche Einladung liest – und ihn jetzt wiederzusehen ist das Letzte, was ich will. Gleichzeitig wünsche ich mir mehr als alles andere, ihn wiederzusehen. Und gleich fange ich wieder an, ihn und mich zu hassen.
Ich stecke die Einladung zurück in den Umschlag und denke in Ruhe nach. Ich könnte Annie anrufen und ihr die Wahrheit sagen. Wir sind so gut befreundet, dass es möglich sein müsste, mich ihr anzuvertrauen. Wahrscheinlich würde ich es auch so machen, wenn es irgendeine x-beliebige Party wäre. Aber hier geht es um die Taufe ihres Erstgeborenen, ein heiliges Ereignis, und deshalb ist mir bei dieser Option nicht wohl. Ich weiß, es würde unglaublich selbstbezogen aussehen. Und das wäre es ja auch.
Ich überlege, ob ich lügen soll. Irgendeine Ausrede erfinden. Ihr sagen, ich sei am Wochenende verreist. Ich hätte bereits die Flugtickets, und sie seien nicht stornierbar. Aber dann müsste ich mir eine große Lügengeschichte über einen Flug nach Las Vegas oder L. A. oder New Orleans ausdenken und immer im Kopf behalten, dass ich an genau diesem Wochenende im August auf Reisen gewesen bin. Und wie ich mich kenne, würde ich meine Ausrede mitten am Wochenende vergessen und ans Telefon gehen, und dann wäre es Annie, die Jess nach ihrem Rezept für «Rum Runner» fragen will. Anscheinend ist es ein grausames Gesetz, dass gerade die Leute, die schlecht lügen können, in den seltenen Fällen, wo sie es doch einmal tun, auch prompt auffliegen. Außerdem wird Annie in Anbetracht meiner vielen Ausreden in letzter Zeit sowieso das deutliche Gefühl haben, dass ich lüge. So ginge es zumindest mir an ihrer Stelle.
Ich ärgere mich, dass ich im Laufe des letzten Monats nicht wenigstens eine ihrer Einladungen zum Lunch oder auf einen Drink angenommen habe. Dass ich sie nicht besucht habe, um mir Raymond jr. anzusehen. Wenn ich mich wenigstens ein kleines bisschen bemüht hätte, wäre eine Absage zur Taufe jetzt nicht so auffallend.
Plötzlich frage ich mich, warum ich Ray und Annie eigentlich so hartnäckig aus dem Weg gegangen bin. Man muss wohl nicht gerade Psychologe sein, um die Gründe zu erkennen. Zum Teil ist es der Babyfaktor. Das Letzte, was ich jetzt um mich haben möchte, ist ein Baby. Ich will nicht daran
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