Und trotzdem ist es Liebe
Geschichte, kurz bevor ich sie kennenlernte. Bei einem «Guten Tag» müsste ich mir Sorgen machen, sagte er; in allen anderen Fällen könnte ich davon ausgehen, dass sie mich mochte.
Natürlich weiß Richard nichts von dieser Geschichte. Ahnungslos sagt er: «Wie geht’s?»
Sogar meine Nichte Zoe würde Bens Antwort als Sarkasmus verstehen. «Super», sagt er mit unechtem Lächeln, und dann entschuldigt er sich und geht schnurstracks zu seinem Patenkind. Er nimmt Annie das Baby vom Arm, dreht sich um und funkelt mich an. Was das bedeuten soll, entgeht mir ebenfalls nicht.
Nach einer qualvollen Stunde voller Smalltalk beginnt endlich die Zeremonie, abgehalten von einer Pastorin in Birkenstocks. Sie heißt Sky. Das Hippiemäßige des Gottesdienstes überrascht mich nicht, zumal wir in einem Wohnzimmer und nicht in einer Kirche sind – und vor allem angesichts des religiösen Hintergrunds bei Annie und Ray. Beide sind katholisch aufgewachsen, aber mit Anfang zwanzig sind sie – jeder für sich – aus verschiedenen, aber hauptsächlich politischen Gründen aus der Kirche ausgetreten. Danach kam eine agnostische Phase, die eine Weile dauerte. Annie sagt, seit sie Raymond jr. haben, sind sie wieder spiritueller geworden, und seit einiger Zeit gehen sie in eine Unitarierkirche in der Second Avenue.
Die Pastorin jedenfalls redet eine ganze Weile über so erhabene Begriffe wie den inhärenten Wert und die Würde eines jeden Menschen, Gerechtigkeit und Mitgefühl in menschlichen Beziehungen, die Suche nach der Wahrheit und den Respekt vor dem Geflecht gegenseitiger Abhängigkeit jeglicher Existenz, dessen Teil wir sind. Zwischendurch hält sie inne und fragt die Paten, ob sie Raymond jr. in der Verfolgung dieser Ziele vorbehaltlos unterstützen und anleiten wollen. Ich sehe Ben an, als er feierlich nickt und zusammen mit Annies Schwester gelobt: «Das will ich.» Unwillkürlich muss ich daran denken, wie wir uns in der Karibik die Ehe versprochen haben. Wie ernst Ben dieses Versprechen da genommen hat. Und wie ernst er jetzt seine Rolle als Taufpate übernimmt. Als ich glaube, ich kann mich endlich umdrehen und zum Buffet flüchten, verkündet Annie, dass die beiden Taufpaten noch ein paar Worte an Raymond verlesen möchten.
Annies Schwester fängt an. Sie trägt ein Gedicht von Langston Hughes vor; es heißt «Traum». Dann ist Ben an der Reihe. Er räuspert sich und sieht den Kleinen liebevoll an. Ich spüre Richards Hand im Rücken, als ich auf meine neuen Schuhe starre und höre, wie Ben mit lauter, klarer Stimme sagt: «Raymond, ich bin glücklich und stolz, dass ich dein Pate sein darf. Ich wünsche dir, dass du ein Mensch von Charakter und Integrität werden wirst, und dafür bete ich … Dass du stark, aber sanftmütig sein wirst … ehrlich, aber nachsichtig … gerecht, aber nicht selbstgerecht … Dass du immer deinem Herzen folgen und Gutes und Schönes vollbringen wirst. Amen.»
Eine verheerende Traurigkeit überfällt mich, als ich mir vorstelle, was für ein wunderbarer Vater Ben sein wird. Wie glücklich sein Sohn oder seine Tochter sein wird. Wie froh und dankbar irgendeine Frau eines Tages sein wird, weil ich über Kinder so gedacht habe, wie ich es tue. Sieh ihn nicht an , befehle ich mir. Aber ich sehe ihn an. Ich kann nicht anders. Und vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber als ich sein Gesicht betrachte, bin ich ziemlich sicher, dass er genauso traurig ist wie ich.
«Ich hätte Richard niemals zu dieser Party mitnehmen sollen», sage ich, als ich wieder zu Hause bei Jess bin und ihr alles erzählt habe.
«Das tut mir leid», sagt Jess. «Aber wenn es dir hilft – ich glaube immer noch, dass du das Richtige getan hast.»
«Wie meinst du das?» Ich öffne die Knöchelriemen meiner wunderschönen Manolos; ich bin fast sicher, dass Ben sie überhaupt nicht bemerkt hat.
«Weil du ihm gezeigt hast, dass du weiterlebst», sagt sie.
«Aber jetzt hasst er mich.»
«Er hasst dich nicht.»
«Du hast den Blick nicht gesehen, den er mir zugeworfen hat. Er hasst mich.»
«Dann hasst er dich eben. Und?»
«Ich will nicht, dass er mich hasst.»
«Doch, willst du wohl. Ihm soll so viel an dir liegen, dass er dich hasst. Wenn er auf der Party mit Richard zusammengehockt und geschwatzt hätte, ginge es dir jetzt schlechter.»
Ich muss ihr zustimmen. Trotzdem: «Ich komme mir so dämlich vor, weil ich ihm das angetan habe.»
«Claudia, du bist mit deinem Freund auf eine Party gegangen. Na
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