Und trotzdem ist es Liebe
extrem hoher Qualität.
Ich hebe meine Stimme um mehrere Oktaven. «Hi, Raymond!»
Ich fühle mich immer ein bisschen befangen und albern, wenn ich mit Babys oder kleinen Kindern spreche, mit denen ich nicht verwandt bin. Raymond zieht die Stirn kraus und schaut weg; er vergräbt das Gesicht an der Schulter seiner Mutter und umklammert ihren Ellenbogen. Es ist, als wüsste er die Wahrheit über mich – dass ich meine Ehe beendet habe, um einem wie ihm aus dem Weg zu gehen. Sagt man nicht, dass Babys und Hunde vieles spüren können?
Annie wirft einen neugierigen Blick auf Richard, und ich sage: «Annie, das ist mein Freund Richard. Richard – das sind Annie und Raymond.»
«Schön, Sie kennenzulernen, Annie», sagt Richard. Dann tätschelt er Raymond jrs. Hintern, dass die Pampers raschelt. «Hi, Buddy! Wie geht’s?»
Raymond jr. bleibt standhaft. Er lässt sich nicht austricksen.
«Gleichfalls, Richard», sagt Annie, und ihre Augen funkeln interessiert. Ich habe ihr am Telefon keine Einzelheiten erzählt, und sie hat mich auch nichts weiter gefragt. Ich habe allerdings gemerkt, dass sie ihre ganze Willenskraft brauchte, um es bei allgemeinen Fragen zu belassen: «Und? Geht’s dir gut?» Ja, habe ich geantwortet, und jetzt kann ich ihr den Beweis dafür zeigen: einen distinguierten älteren Mann.
Richard und Annie fangen eine Plauderei an, die hauptsächlich darin besteht, dass Annie ihm eine Reihe von Fragen stellt. Was machen Sie beruflich? Ach, Sie sind Kollegen? Seit wann arbeiten Sie schon da? Woher kommen Sie? Er antwortet freundlich, aber knapp und stellt selbst ein paar Fragen. Dann kommt Ray zu uns. Sein Gesichtsausdruck fragt: So, so, was haben wir denn da?
Ich sehe ihm auf den ersten Blick an, dass er mit meinem Gast nicht einverstanden ist. Das könnte vieles bedeuten. Es könnte bedeuten, er ist traurig, weil seine lieben Freunde nicht mehr zusammen sind. Es könnte bedeuten, dass er Ben beschützen möchte. Es könnte aber auch bedeuten, dass er mich für eine dumme Pute hält, weil ich am Ehrentag seines Sohnes einen Hauch von Kontroverse ins Spiel bringen muss. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass die letzte Möglichkeit die wahrscheinlichste ist.
Ob Annie ihn vorgewarnt hat? Ganz sicher. Andererseits – wahrscheinlich hatte sie den Kopf voll mit anderen Dingen, zum Beispiel von der allumfassenden Fürsorge für ein Baby. Vielleicht geht sie so sehr darin auf, dass sie und ihr Mann nur noch selten Zeit finden, miteinander zu reden.
Er begrüßt Richard mit einem Händedruck, der mir aggressiv erscheint. Dann sieht er mich an und sagt: «Schön, dich zu sehen, Claudia.» Er wirkt reserviert, und mir kommt der Gedanke, dass unsere Freunde womöglich Partei ergriffen haben. Partei für Ben.
«Ja, ich freue mich auch», sage ich. «Gratuliere zu Raymonds großem Tag.»
Annie füllt die jetzt folgende Schweigepause aus, indem sie uns etwas zu trinken anbietet. Richard wirft einen Blick hinüber zu der provisorischen Bar auf der anderen Seite des Zimmers und sagt, danke, er könne sich selbst etwas holen. «Kann ich jemandem etwas mitbringen?»
Ich sehe ein halbes Dutzend Champagnerflaschen, die wie treue Soldaten in Reih und Glied stehen, und nicke. Es ist zwar erst elf, aber ich kann einen Drink gebrauchen. «Ich nehme, was du nimmst», sage ich zu Richard, und ich weiß, wie paarmäßig das klingt.
Ray strahlt plötzlich und trompetet: «Onkel Ben ist da!»
Ich atme scharf ein, aber ich wende den Blick nicht von Raymond jr. Ich weiß, dass ein sechs Monate altes Kind unmöglich wissen kann, was los ist, aber ich schwöre, dass das Baby auf Annies Arm mich höhnisch ansieht und dann Ben anlächelt, den ich dicht neben mir spüre. So dicht, dass er mein Parfüm riechen kann – denn ich rieche seinen natürlichen Duft, obwohl mir bisher nie bewusst war, dass er ihn hatte. Es ist, wie wenn du nach einem langen Urlaub nach Hause kommst und feststellst, dass deine Wohnung tatsächlich einen unverwechselbaren Geruch hat.
Ben beugt sich vor und drückt Raymond jr. einen Kuss auf den Scheitel. Er sagt nichts davon, dass das Baby gewachsen ist. Offenbar war er schon ein paarmal hier.
Dann dreht er sich zu mir um und sagt: «Hi, Claudia.» Ich atme aus und gestatte mir eine Sekunde Blickkontakt. Er sieht aus wie immer. Er sieht aus wie Ben. Mein Ben.
«Hi», sage ich. Meine Stimme klingt komisch, und mich überkommt eine plötzliche Schwäche. Körperliche Schwäche – ich habe das Gefühl,
Weitere Kostenlose Bücher