Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
so viel Angst und Schrecken ausgelöst wie die Blutorgie, die ein bisher unbekannter Täter an den beiden minderjährigen Jungen Kevin van Leer und Deniz Aylan verübt hat. Und noch nie vorher war die Polizei so hilflos. Unser Gast im Studio ist heute Hoofdcommissaris Jaap Joodenbreest vom Hoofdbureau van Politie. Guten Morgen, Mijnheer Joodenbreest.«
Der Hoofdcommissaris saß in seiner dunkelblauen Uniform auf einer schwarzen Couch, die Beine übereinandergeschlagen: eine Studie in monochromer Gelassenheit. »Guten Morgen, Mijnheer Loosen. Nun, als Erstes –«
»Stimmt es«, unterbrach ihn der Moderator, »dass Sie einen Ihrer fähigsten Mitarbeiter, Commissaris Bruno van Leeuwen, schon vor dem zweiten Mord von diesem Fall abgezogen haben ?«
»Nun, lassen Sie mich zuerst anmerken, dass die Polizei keineswegs so hilflos ist, wie Sie es eben dargestellt –«
»Aber es stimmt doch, dass Sie Commissaris Van Leeuwen beurlaubt haben, einen Beamten, der – korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre – im Lauf seiner verdienstvollen Tätigkeit für die Amsterdamer Polizei achtzehn Morde aufgeklärt hat ?«
»Nun, es war von vornherein gar nicht Mijnheer van Leeuwens Fall«, sagte der Hoofdcommissaris. »Er hat die Ermittlungen gewissermaßen an sich gerissen und leider auch, um ein Bild aus dem Fußball zu bemühen, bei der Aufstellung seiner Mannschaft keine glückliche Hand bewiesen –«
»Haben Sie Ihre Entscheidung mit dem Bürgermeister abgestimmt?«
»Dazu bestand nicht die geringste Veranlassung«, entgegnete der Hoofdcommissaris unruhig; seine Gelassenheit bröckelte. »Es handelte sich um eine normale polizeiinterne Maßnahme, wie sie jeden Tag vorkommt. Es musste etwas getan werden, und ich habe es getan. Die Kriminalität in unserem Land hat eine neue Qualität angenommen, unsere Gesellschaft befindet sich im Umbruch –«
»Was genau haben Sie getan, um weitere Ritualmorde wie die an Kevin van Leer und Deniz Aylan zu verhindern, Mijnheer Joodenbreest?«
Das rechte Bein des Hoofdcommissaris zuckte, als wollte er einen kläffenden Köter wegstoßen. »Ich habe eine Sonderkommission ins Leben gerufen, die, seit sie ihre Arbeit aufgenommen hat, bereits eine Fülle von Ergebnissen vorweisen kann –«
»Als da wären ?«
»Nun, zum Beispiel haben wir inzwischen ein ziemlich genauesTäterprofil, wir kennen seinen Modus Operandi, und aus den Spuren, die er am Tatort hinterließ, können wir uns ein Bild von seinem Aussehen machen –«
Was tut er denn, dachte Van Leeuwen, was, um Himmels willen, tut er denn da ?
»Der Täter ist ungewöhnlich klein«, fuhr der Hoofdcommissaris fort, »und von dunkler Hautfarbe. Er hat Blutgruppe B, die bekanntlich sehr selten ist, und Schuhgröße 6. Er fällt seine Opfer von hinten an, schlägt sie mit einem schweren Gegenstand nieder und erwürgt sie dann, bevor er ihren Schädel öffnet und vollständig –«
Ungläubig hörte Van Leeuwen zu, wie der Hoofdcommissaris eine Karte nach der anderen aufdeckte und Stück für Stück alles preisgab, was sie bisher sorgfältig zusammengetragen, aber bewusst zurückgehalten hatten. Wie er dem Mörder vor laufender Kamera riet, seine Vorgehensweise komplett zu ändern. Wie er mögliche Nachahmungstäter einlud. Wie er mit jedem Indiz, das er ausplauderte, Entsetzen und damit Panik säte.
»Wir haben die Abdrücke seines Gebisses auf dem Körper der letzten Leiche gefunden«, sagte der Hoofdcommissaris, »außerdem einen Turnschuhabdruck der Marke Puma in der Nähe der Stelle, an der Deniz Aylan gefunden wurde. Wir gehen davon aus, dass es sich um Morde mit einer stark nekrophilen Komponente handelt –«
Erzähl ihnen noch von den Nieren, den geöffneten Venen, dem Bambussplitter, dachte Van Leeuwen; du willst doch nicht etwa einen letzten Trumpf in der Hand behalten ? Das Telefon klingelte, aber er ging nicht an den Apparat.
»Dann beantworten Sie uns bitte noch eine Frage«, verlangte der Moderator. »Wann wird der Kannibale wieder zuschlagen ?«
Der Hoofdcommissaris schwitzte.
Es war ein heißer Tag.
Es war der erste wirklich heiße Tag in diesem Sommer, nicht so heiß wie ein Sommertag in Athen, Istanbul oder Mexiko City, aber für Amsterdam war es ein heißer Tag. Der Commissaris ließ seine Frau dösend im Schatten der Wohnung zurück, um zu laufen, umdurchzuatmen. Die Angst lag ihm schwer auf der Brust, und seit er Jaap Joodenbreest auf der Mattscheibe gesehen hatte, war sie noch größer geworden. Er brauchte
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