Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
auf dem Bücherregal hinter Van Leeuwen erweckte mit ihrem abwechselnd lauten und dann wieder leisen Ticken den Eindruck, dass die Sekunden auf der Stelle traten, statt zu vergehen. Der Computer verlangte ein Passwort, das der Commissaris nicht kannte.
Versuchsweise gab er Pieters ein, dann Kuru , anschließend Nobelpreis und zu guter Letzt Keo ; keiner der Begriffe erlaubte ihm den Zugriff auf die Dateien. Wie gern hätte er dem Monitor einen Schlag mit der Taschenlampe versetzt; stattdessen schaltete er ihn aus.
Wieder warf er einen Blick auf die Uhr. 23:11 Uhr.
Unter der Arbeitsplatte stand ein kleiner Rollschrank, gesichert durch ein Schloss, das man mit einer zurechtgebogenen Büroklammer aus einer Schale unter der Schreibtischlampe öffnen konnte. In mehreren Fächern stapelten sich Papiere in Klarsichtfolien, Disketten, Briefe und Schreibhefte. Der Commissaris nahm eines der Hefte heraus und schlug es auf. Die schwach linierten Seiten waren engzeilig beschrieben, zwar von Hand, aber in einer klaren, gut lesbaren Schrift. Van Leeuwen überflog die erste Seite, blätterte weiter, überflog auch die zweite und dritte und hatte das Gefühl, auf einen Schatz gestoßen zu sein: Pieters’ Notizen von seiner ersten Reise zu den Fore im Hochland von Neuguinea.
Neuguinea ist die letzte Wildnis der Erde. Noch heute schreckt ihr blutrünstiger Ruf viele Forscher ab, las der Commissaris. Die Insel liegt im Westpazifik – südlich des Äquators, nördlich von Australien und östlich von Sumatra und Borneo. Sie ist zweimal so groß wie Frankreich, fast zweieinhalbtausend Kilometer lang und sechshundert Kilometer breit; ein lang gestrecktes Zentralgebirge bildet ihr Rückgrat, geschützt von malariaverseuchten Mangrovensümpfen und undurchdringlichen Regenwäldern.
Port Moresby gehört zum australisch verwalteten Teil der Insel. Kurz nach meiner Ankunft hörte ich von einer seltsamen Krankheit, von der die Eingeborenen im Hochland von Kainantu heimgesucht wurden, und auf Bitten des hiesigen Arztes machte ich mich sofort auf den Weg dorthin, begleitet nur von ein paar einheimischen Trägern. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, worauf ich mich einließ. Ich wusste nicht, dass die Expedition mich geradewegs zurück in die Steinzeit führte, zu Kopfjägern und Kannibalen, von denen ich für immer verändert zurückkehren sollte.
Van Leeuwen übersprang einige Seiten. Er wünschte, er könnte das Heft mitnehmen und zu Hause in Ruhe lesen, denn er spürte, dass es von allem, was er hier gefunden hatte, das Wichtigste war – der Schlüssel zu der Tür, hinter der sein Mörder stand.
Seit drei Tagen sind wir jetzt unterwegs. Bereits am Morgen des zweiten Tages mussten wir den Landrover zurücklassen. Wir haben nur das Zelt, den Schlafsack, den Kocher, das Funkgerät, und ein paar Vorräte mitgenommen.
Es ist ein beschwerliches Marschieren durch diesen Urwald, wie ich noch nie vorher einen gesehen habe , las der Commissaris, erst durch scharfes, schulterhohes Gras, riesige Schwertfarne und leuchtend rotes Schleierkraut, dann vorbei an mächtigen Pilzen mit schillernden Köpfen und gewundenen Stielen. Mit Machetenschlägen bahnen wir uns einen Weg durch Bambusstängel, Lianen und wuchernde Schlinggewächse. Zwischen den Bäumen herrscht ein unheimliches Halbdunkel. Die Luft ist erstickend, sie umkriecht uns wie warmer Weihrauch,
der uns die Ausdünstung von allem, was hier in den letzten Jahrhunderten gestorben, verfault und aus der Fäulnis neu gereift ist, in die Nase steigen lässt. Unsere Schritte, die Schläge unserer Buschmesser sind das einzige Geräusch in der brütenden Stille.
Allmählich stolpern wir nur noch durch ein wucherndes, tastendes Gewölbe aus feuchtem Blattwerk. Klebrige Nässe tropft und sickert noch zähflüssiger von Blatt zu Blatt als das spärliche Tageslicht. Sie rinnt über fleischige grüne Sicheln in weit geöffnete Blütenkelche, sickert in die Schimmelkissen an den Baumstämmen und verdampft schließlich, ehe sie die Erde erreicht.
Die Wurzeln der Bäume unter unseren Füßen sind dicker als Elefantenrüssel, und die verwachsenen Äste bilden ein undurchdringliches Dach über unseren Köpfen. Zwischen den Wurzeln gibt es Schlangen jeder Art und in allen Farben, Skorpione mit hochgerecktem Stachel; handtellergroße pelzige Giftspinnen; lange weiße Tausendfüßler. Jedes Tier scheint seine eigene Welt in diesem Gewirr zu haben, hat sein Netz gespannt, einen Tunnel für seine
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