Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
Federnd gaben die dünnen Äste nach, leisteten dann aber heftigen Widerstand. Gerade als der Commissaris glaubte festzustecken, verlor er das Gleichgewicht. Er fiel auf die andere Seite der Hecke, stolperte und fing sich gerade noch rechtzeitig, sonst wäre er auf eine von Efeu überwachsene Marmorbank gestürzt.
Vorsichtig tastete er sich über den verwilderten Rasen auf die Veranda des Hauses zu, das sich knochenbleich im Mondschein erhob. Wilder Wein bedeckte die Fassade wie ein wucherndes Muttermal. Der Wind, der von der Markensee landeinwärts wehte,raschelte in den Kronen der Platanen. Van Leeuwen stieg die Stufen zum Eingang des Hauses hoch. Er bemühte sich jetzt nicht mehr, leise zu sein, und als er neben der Tür einen Klingelknopf entdeckte, drückte er darauf. Er hörte ein Glockenspiel im Inneren des Hauses, aber sonst rührte sich nichts. Niemand erschien an der Tür.
Das Haus war leer.
Der Commissaris zog den Bund mit den Dietrichen aus der Hosentasche, und diesmal hatte er Glück: Er konnte die beiden Schlösser der Eingangstür öffnen. Er stieß die Tür auf, schlüpfte hindurch und schloss sie wieder. Während er darauf wartete, dass seine Augen sich an die Finsternis hinter der Tür gewöhnten, holte er schwarze Seidenhandschuhe aus der anderen Hosentasche und streifte sie über.
Das Haus war still.
Es war eine Stille, wie Van Leeuwen sie noch nie erlebt hatte. Er hörte nichts außer seinen Atemzügen und seinem Herzschlag, der in seiner Brust zu hallen schien. Die Luft war feucht und warm und erfüllt von einem abgestandenen süßen Geruch, als wären die Räume schon lange nicht mehr bewohnt worden. Es roch wie in einem botanischen Garten. Sobald Van Leeuwen genug sehen konnte, um sich zu orientieren, ging er von einem Fenster zum anderen und kontrollierte, ob die Jalousien fest geschlossen waren. Er sah die schattenhaften Umrisse von Möbeln und die Türen und eine Treppe auf der anderen Seite des Raums, auf deren Stufen der Widerschein eines Buntglasfensters lag. Er ging so langsam, dass er die Möbel spürte, bevor er dagegenstieß.
Etwas streifte sein Gesicht. Er erschrak, zuckte zurück und riss einen Arm hoch, um sich zu schützen. Als kein Schlag folgte, streckte er die Hand aus und bewegte sie vorsichtig hin und her, bis er gegen etwas Schwebendes stieß, das sich ihm sofort entzog.
Ein Blatt, fleischig und fest, an einer dünnen Ranke.
Er blieb stehen, bis er wieder ruhig atmete. Nachdem er sich durch das ganze Erdgeschoss getastet und alle Türen und Fenster geschlossen hatte, holte er eine kleine Taschenlampe aus seiner Jacke und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl fiel auf einen Bastteppich,wanderte weiter zu einem Bambustisch und einer Gruppe von Rattansesseln.
Hinter den Sesseln stand ein mit Schnitzereien verzierter Totempfahl, der fast bis zum Plafond reichte. Er endete in einem Kopf mit grausamen Gesichtszügen. Aus Tontöpfen zu beiden Seiten des Pfahls wuchsen riesige Farne in die Höhe. Es gab eine Rattancouch, Schränke und Regale aus Tropenholz, gefüllt mit Büchern, Videokassetten, Töpfen und primitiven Werkzeugen.
Van Leeuwen warf einen Blick auf seine Armbanduhr. 22:37 Uhr. Länger als eine Stunde wollte er nicht in Pieters’ Haus bleiben. Er sah sich um. Dutzende von exotischen Puppen und Statuetten bevölkerten den Raum, aus Holz geschnitzt, aus Bast geflochten oder aus Ton gebrannt. Sie lagen auf den Fensterbrettern, standen auf dem Kaminsims. An den Wänden hingen hölzerne Masken, bemalte Schilde und Speere mit Steinspitzen, kaum sichtbar durch ein Gewirr fleischiger Palmwedel.
Der hin und her huschende Lichtkegel verirrte sich immer wieder zwischen großen Blättern und verschlungenen Ranken. Bemalte Fratzen sprangen aus der Dunkelheit, ohne ihren Platz an den Wänden zu verlassen. Ein Kanu baumelte an der Decke, lang und flach wie der Bauch eines Hais.
Langsam ging der Commissaris durch den großen Salon, öffnete alle Türen. Dahinter lagen das Arbeitszimmer, das Esszimmer, die Küche, ein Gästebad, eine Abstellkammer. Als er sicher war, dass sich im Erdgeschoss niemand aufhielt, betrat er die Treppe ins obere Stockwerk. Auf dem Holzboden neben der untersten Stufe lag ein Motorradhelm, zu klein für den Kopf eines ausgewachsenen Mannes.
Der Commissaris leuchtete auf seine Füße, damit der Lichtstrahl nicht nach draußen drang. Die Stufen knarrten unter seinen Schuhen, und sobald er stehen blieb, kehrte die unheimliche Stille zurück. Auf der
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