Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
müssen Sie wissen. Nur wenige Männer. Ich treffe mich mit kaum jemandem. Die meisten sind so ...« Wieder deutete sie ein Schulterzucken an. »Sie sind anders, Bruno.« Sie wickelte die Strähne um den Zeigefinger.
Van Leeuwen sah zu ihr auf. »Ich habe nicht vergessen, was Sie alles für uns getan haben, Mevrouw«, sagte er vorsichtig, »für mich .«
»Das ist gut«, sagte sie. »Vergessen ist schlimmer als versagen.« Ihr Gesicht trug jetzt einen warmen Schimmer vom Licht der Laternen an der Gracht. Versonnen fuhr sie fort: »Kennen Sie das – dass man manchmal etwas hört oder sieht und auf einmal das Gefühl hat, ganz kurz nur, dass man das ganze Leben begreift ? Das Geheimnis, wie alles zusammenhängt ... Und im nächsten Augenblick, wenn man es festhalten will, ist es schon wieder weg, und man weiß nur, dass es mal da war ... Und was komisch ist – was wirklich komisch ist: dass es keine Skala für Einsamkeit gibt. Man ist nicht ein bisschen einsam oder fünfundvierzig Grad oder zwölf Zentimeter. Man steckt mittendrin, es geht nicht höher und nicht tiefer, und selbst wenn die Welt um einen herum vor Schönheit nur so aus den Nähten platzt, wird dadurch nichts leichter und nichts schwerer. Alles, was man tun kann, ist warten, dass es vorbeigeht, und es muss vorbeigehen, weil niemand so leben kann.«
Van Leeuwen sagte: »Es sei denn, man entwickelt auch noch ein Gefühl für die Unzulänglichkeit des Lebens.«
»Ja«, sagte Ellen, »darin bin ich inzwischen ziemlich gut.« Siedrehte sich abrupt um, als wäre ihr auf einmal klar geworden, dass sie gerade einen großen Fehler beging. »Also, ich geh dann mal wieder...«
»Haben Sie denn überhaupt niemanden ?«, hörte Van Leeuwen sich fragen. »Keine Familie ? Freunde ? Einen verflossenen Geliebten, der manchmal anruft ?«
»Ich habe einen Hund. Aber mit dem streite ich gerade um das Sorgerecht für die Welpen.«
»Und weswegen sind Sie wirklich gekommen ?«
»Es war schön, Sie vor mir auf den Knien zu sehen«, sagte Ellen, schon an der Tür.
»Vor den Begonien«, sagte Van Leeuwen. »Es waren die Begonien.«
Leise betrat er das dunkle Krankenzimmer, in dem nur die Nachtbeleuchtung brannte. Mit dem Kopfende zum Fenster standen zwei Betten, von denen eins leer war. In dem anderen lag Simone und schlief. Ihre Augen waren geschlossen, die Hände hielt sie über dem Bauch gefaltet. Sie atmete tief und ruhig. Ihr linkes Bein war vom Knie bis zur Hüfte bandagiert und wurde von einem kleinen Galgen am Fußende des Betts in leichter Schräglage gehalten.
Van Leeuwen setzte sich auf einen Stuhl zwischen den beiden Betten. »Was machst du denn wieder für Sachen ?«, fragte er seine Frau.
Die Nachtschwester hatte ihn zuerst nicht zu ihr lassen wollen, aber nach einem Blick auf seinen Ausweis und einem kurzen, nichtsdestoweniger erbitterten Wortgefecht war ihr mulmig geworden, und sie hatte ihn sogar bis zur Zimmertür geführt. Nun saß er da, betrachtete den Schlaf seiner Frau und dachte, gut, dass du nicht weißt, wo ich heute Nachmittag war.
Sie öffnete die Augen, sah ihn aber nicht. Ihr Blick war auf die Zimmerdecke gerichtet. Sie bewegte sich, und der kleine Galgen, an dem ihr Bein hing, klirrte. Unvermittelt ging ihr Atem schneller. Sie sah nach rechts und links, erkannte den Raum nicht. »Hallo«, sagte Van Leeuwen, bevor sie in Panik geraten konnte.
Ihr Blick blieb an ihm hängen. Er knipste die Nachttischlampe an, damit sie ihn sehen konnte. Sie lächelte. »Vorlesen ?«, fragte sie.
»Ja«, sagte er. Er holte die zerfledderte Ausgabe der Schatzinsel aus der Jackentasche, schlug den Anfang auf und hielt die Seiten ins Licht. Mit sanfter, etwas heiserer Stimme las er die ersten Sätze, die er in den letzten Monaten schon viele Male vorgelesen hatte: »Unser Gutsherr, Baron Trelawney, Doktor Livesay und die übrigen Herren drangen in mich, eine genaue Darstellung unserer Reise nach der Schatzinsel niederzuschreiben und nichts auszulassen als die Angabe ihrer Lage, und auch das nur, weil dort noch ungehobene Schätze liegen ...«
Er las, bis Simone wieder eingeschlafen war, einen friedlichen Ausdruck auf dem Gesicht, friedlich und doch von trauriger Starre. Dann schloss er das Buch wieder, steckte es ein, stand auf und beugte sich vor, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben. »Schlaf gut«, flüsterte er, »und träum nicht von ungehobenen Schätzen.«
So leise, wie er gekommen war, verließ er das Krankenzimmer wieder.
Eine halbe
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