Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
war, um noch einmal in den Park zu gehen. Er hatteEllen angerufen, weil er ihr sagen musste, dass es wieder später werden würde, und dann hatte er mit Simone gesprochen, damit sie wenigstens seine Stimme hörte, bevor sie zu Bett ging. Jetzt stand er hier und atmete den Geruch des Tatorts, der sich nach einem Mord noch tagelang von jedem anderen Geruch unterschied.
Er wusste nicht, wie lange er schon so dastand, als er die Schritte hörte. Es waren leise Schritte, tastend im Gras. Langsam näherten sie sich hinter dem Gebüsch, das die Kastanie umgab. Van Leeuwen hielt den Atem an und dachte an die 9mm Luger, die in der Schublade seines Schreibtischs lag. Die Blätter an den Zweigen über seinem Kopf raschelten unruhig. Plötzlich spürte er wieder die Angst, die ihm bis ins Herz gefahren war, als er die Leiche des Jungen gesehen hatte.
Die Schritte verhielten. Dann rief eine Stimme: »Bruno ?!« »Ton?«
Hoofdinspecteur Gallo schälte sich aus der Nacht. »Du und deine Marotten«, sagte er leise.
»Ich kann sowieso nicht schlafen«, sagte Van Leeuwen erleichtert. Gallo sagte: »In Wirklichkeit hast du doch nur Angst um dein Gewissen. Dass es sich wieder entzünden könnte ...«
»Ach«, sagte Van Leeuwen, »daraus besteht doch das Gewissen. Aus lauter Narben, die von verheilten Entzündungen zurückgeblieben sind. Und wenn ich nicht schlafen kann, liege ich wach und höre zu, wie das Narbengewebe wächst.«
»Komm, ich begleite dich nach Hause«, sagte Gallo.
Van Leeuwen schüttelte den Kopf. »Da ist er gegangen, Ton, und er hatte Angst«, sagte er. »Es war dunkel, so wie jetzt. Er wollte bloß schneller zu seiner Freundin, deswegen ist er durch den Park gegangen, obwohl er sich davor fürchtete. Und der Mörder hat ihn beobachtet und auf den günstigsten Moment gewartet, bis er an eine Stelle kam, wo sie allein waren, eine dunkle Stelle. Er hatte es fast geschafft, siehst du ? Dahinten ist der Park zu Ende, nur diese Bäume noch, aber da hat der Mörder zugeschlagen, und alles muss blitzschnell gegangen sein, und dann ... dann hat er ihn einfach liegen lassen ...«
Seine Stimme klang gepresst, als läge auf seiner Brust eine Bleiplatte, unter der seine Gefühle Schutz gefunden hatten.
»Warum musste er auch durch den Park gehen«, sagte Gallo, »mitten in der Nacht.«
»Es war nicht der Park«, sagte Van Leeuwen, »und auch nicht die Nacht. In manchen Ehen ist es gefährlicher als hier im Vondelpark. Es war das, was er gesehen hatte, und er hat diese Angst gespürt, weil er wusste, dass auch er gesehen worden war.«
»Im Krankenhaus ?«
»Kann sein. Aber möglicherweise hat Tic uns auch nicht die Wahrheit gesagt. Oder er hat Tic nicht alles gesagt.«
»Dann war’s vielleicht das«, sagte Gallo. »Dann hat der Täter vielleicht getan, was er tun musste, um einen Zeugen auszuschalten, und er muss es danach nie wieder tun.«
»Solange Kevin der einzige Zeuge war«, sagte Van Leeuwen, »und nur für den Fall, dass es keine weiteren Zeugen gibt. Das wissen wir aber erst, wenn wir rausgekriegt haben, was unser Erfinder zu verbergen hat. Ob sich das, was Kevin gesehen hat, wiederholen kann oder nicht. Oder ob es eine fortwährende Gefahr für den Täter darstellt – wie ein Geheimnis, zum Beispiel.«
»Also glaubst du nicht, dass die Tat etwas mit Drogen zu tun hat ? Er könnte einem Dealer in die Quere gekommen sein. Oder ein anderer Junkie hat ihn im Rausch angegriffen. So wie Kevin zugerichtet war –«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte Van Leeuwen.
Gallo setzte sich auf die Erde. »Wenn du schon hierbleiben willst, kannst du dich auch hinsetzen. Der Boden ist ganz trocken.«
Auch Van Leeuwen setzte sich. Das Gras war noch warm, aber das spürte er nur, wenn er es mit der Hand berührte. Es tat gut, sich hinzusetzen, wenn man den ganzen Tag über gestanden hatte.
»Dass die Kinder Drogen nehmen, daran habe ich mich ja in zwischen gewöhnt«, sagte Gallo. »Aber dass sie immer früher anfangen, macht mir zu schaffen. Was ist bloß los ? Warum tun sie das?«
»Du hast doch gehört, was Tic gesagt hat: Angst.«
»Ich habe auch manchmal Angst, und trotzdem nehme ich keine Drogen.«
»Weil du eine Vergangenheit hast, aus der du lernen konntest, dass Angst vorübergeht«, sagte Van Leeuwen. »Diese Kids haben noch keine Vergangenheit. Die Gegenwart kommt einem manchmal unerträglich vor, wenn man jung ist, und die Zukunft noch viel mehr. Wenn sie was eingeworfen haben, geht die
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