Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
Commissaris drehte sich um. »Welche Reise ?« Er konnte sich nicht erinnern. »Ich hatte viel zu tun in letzter Zeit«, antwortete er. »Letzte Woche habe ich daran gedacht, aber dann gab es ja diesen neuen Mord –«
»Und ein Heim ? Haben Sie schon einmal über ein Pflegeheim nachgedacht?«
Anstatt zu antworten, blickte der Commissaris wieder aus dem Fenster. Die Fenster des gegenüberliegenden Trakts spiegelten den Himmel, das blendende Frühlingsblau. Als die nächste Wolke vorbeizog, erlosch der blendende Glanz, und die Scheiben gaben den Blick frei auf die Korridore dahinter.
Hinter einem der Fenster ging ein Junge vorbei, klein, flüchtig wie ein undeutlicher Schatten, und einen Herzschlag lang befiel den Commissaris ein Gefühl der Beklemmung, fast ein Schrecken. Das Abbruchhaus, dachte er; es war dasselbe Entsetzen. Er stellte fest, dass er die Hand in die Hosentasche geschoben hatte und die Tüte mit dem Bambussplitter darin berührte. Er starrte weiter auf das Fenster, dann auf das nächste, aber der Junge tauchte nicht wieder auf.
Terlinden stand auf und klappte die Zeitschrift zu, die aufgeschlagen vor ihm gelegen hatte. Mit einem Räuspern gab er zu verstehen, dass die Audienz beendet war. »Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, würde ich mich jetzt gern wieder meiner Arbeit widmen, Commissaris.«
»Ja, natürlich.« Van Leeuwen atmete tief durch, zog die Hand aus der Tasche und löste sich vom Fenster. Terlinden legte die Zeitschrift auf einen Stapel von Magazinen neben dem Schreibtisch.
Das Titelbild zeigte einen bärtigen Mann in einem kurzärmeligen Safarihemd und Khakishorts vor einem grünen Hintergrund, der sich erst bei genauerem Hinsehen als ein Gewirr aus Dschungelpflanzenentpuppte. Aber es war nicht dieser sonnengebräunte bärtige Mann, der Van Leeuwens Aufmerksamkeit erregte, sondern die großen Buchstaben CJD , weiß wie sonnengebleichte Knochen, neben seiner Brust.
»Entschuldigen Sie, Mijnheer«, sagte der Commissaris und griff nach dem Magazin. Es handelte sich um eine englische Zeitschrift mit dem Titel Science Monitor, und Van Leeuwens Englischkenntnisse reichten gerade aus, um zu entschlüsseln, dass der Name des Mannes auf dem Cover Doktor Josef Pieters war und dass er bei der Erforschung von mad cow disease einen Durchbruch geschafft zu haben schien.
» Mad cow disease ?«, fragte Van Leeuwen.
» Mad cow disease ist die englische Bezeichnung für B S E, Sie kennen das wahrscheinlich als Rinderwahnsinn«, antwortete Terlinden. »Insofern hat es im weiteren Sinn auch mit der CJ D zu tun.«
»Haben Sie nicht mal gesagt, dass Alzheimer und die Creutzfeldt-Jacob-Krankheit sich sehr ähnlich wären ?«
»Nicht ähnlich«, widersprach der Professor, »nur vergleichbar; das ist ein Unterschied. Alzheimer nimmt mehr oder weniger immer denselben Verlauf, während Creutzfeldt-Jakob in allen möglichen Varianten auftritt: Die einen werden blind, die anderen verlieren den Verstand, und manche erleiden schwerste Persönlichkeitsstörungen, unter denen die mangelnde Koordination der Bewegungsabläufe noch am ehesten an Rinderwahnsinn erinnert. Bei Alzheimer wird der befallene Bereich härter und schrumpft, bei CJ D verwandelt er sich in eine weiche Masse. Alzheimer ist nicht ansteckend, CJ D kann durchaus virologisch übertragen werden. Davon abgesehen, richtet Alzheimer seine Verwüstungen vor allem im Großhirn an, wohingegen CJ D sich auf das Kleinhirn konzentriert.«
»Und was ist das für ein Durchbruch, den dieser Pieters erzielt hat?«
»Dieser Pieters, wie Sie ihn nennen, ist ein überaus geschätzter Kollege«, belehrte Terlinden den Commissaris, jetzt wieder auf vertrautem Terrain, mit genau der richtigen Dosis Herablassung und Stolz in der Stimme. »Er ist Kinderarzt und Professor für Anthropologiean unserer Alma Mater, außerdem Neuropathologe, Biochemiker und Epidemiologe, und irgendwann in naher Zukunft wird er auf einem dieser Gebiete den Nobelpreis erhalten.«
»Er ist hier ? In Amsterdam ?« Van Leeuwen betrachtete das Bild, den sonnengebräunten Mann mit den schweißverklebten Haaren, den Urwald hinter ihm, seine eingeborenen Träger.
»Ich weiß nicht, ob er schon zurück ist, aber wenn Sie wollen, kann ich das für Sie herausfinden«, sagte Terlinden. »Nur sollten Sie sich keine Hoffnungen machen, dass ein Fortschritt, gleich welcher Art, auf dem Gebiet der CJD-Forschung sich in absehbarer Zeit auf die Alzheimer-Therapie übertragen lassen könnte. Der
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