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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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wahrscheinlich war der Hoofdcommissaris heute dort, wo er war, weil er seine Entscheidungen anders traf, unter anderen Gesichtspunkten. Und wahrscheinlich galt das für alle Menschen, also gab es gar nicht so viel nachzudenken.
    »Stell dir vor, ich bin suspendiert worden«, hatte er Simone erzählt, als er nach Hause gekommen war. »Über dreißig Jahre bei der Polizei, und jetzt bin ich vom Dienst beurlaubt worden.«
    »Nicht so schlimm«, hatte Simone tröstend gemurmelt, »bestimmt nicht so schlimm.«
    Beurlaubt oder nicht, es bleibt dein Fall, dachte Van Leeuwen, ganz wie Ton gesagt hat. Nur ist kein Fall so wichtig, dass du deine Frau deswegen aufgibst. Du wirst sie früh genug aufgeben müssen, wenn dir alles über den Kopf wächst, aber noch ist es nicht so weit.
    Etwas später gestand er sich ein, dass er bis jetzt nur die halbe Wahrheit betrachtet hatte. Die andere Hälfte der Wahrheit konnte sein, dass er vor seinem Fall weglaufen wollte, weil er nicht mehr weiter wusste. Wie sonst ließ es sich erklären, dass er, wenn auch nur für kurze Zeit, die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, der Mord könnte tatsächlich von einem Kopfjäger oder sogar von einem Kannibalen begangen worden sein ? Nicht von einem weißen Kannibalen, der übers Internet Gleichgesinnte suchte – Opfer, denen die Aussicht, verspeist zu werden, Lust bereitete. Sondern von einem der letzten echten Menschenfresser, wie Doktor Holthuysen von der Pathologie bei seinem nächtlichen Anruf angedeutet hatte.
    Es war der Bambussplitter, der diese merkwürdigen Vorstellungen von schwarzen Kopfjägern und anderen Wilden mit längst ausgestorbenen Riten nährte, sogar im heutigen Amsterdam. Aber wenn man es einen Moment lang mal nicht als merkwürdig abtat,dann musste die Frage lauten: warum ausgerechnet im Amsterdam von heute ? Wo kam der Kannibale her ? Wie war er nach Holland gelangt ? Warum mordete er nicht in einer anderen Stadt Europas, in Berlin, London oder Paris ? Warum war er überhaupt ein Menschenfresser ? Warum war er so jung ? Wer waren seine Eltern ? Und wenn er nun wirklich Menschen aß, warum hatte er so viel von Kevin übrig gelassen ?
    Unsinn, dachte der Commissaris wütend. Es gab keine Menschenfresser, und bei jedem Fall kam ein Punkt, wo man die absurdesten Überlegungen anstellte; das passierte ihm nicht zum ersten Mal. Ihm war einfach keine andere Wahl geblieben, als den Fall abzugeben, nachdem der Hoofdcommissaris ihn vor die Entscheidung gestellt hatte.
    Er stand auf und ging im Dunkeln in die Diele, an deren Ende eine Abstellkammer war, voll mit alten Kleidern, Schuhen, Bildern, defekten Elektrogeräten und Erbstücken, für die sie in ihrer Ehe nie eine Verwendung gefunden hatten. In der Kammer des Schreckens, wie Simone sie irgendwann genannt hatte, standen auch ihre seit Jahren nicht mehr benutzten Koffer. Van Leeuwen knipste das Licht an. Er arbeitete sich bis zu dem Holzregal vor, unter dem die Koffer standen, die von Simone vorne, denn sie war öfter verreist als er, meistens im Auftrag ihrer Redaktion.
    Er hob den Koffer an und stellte überrascht fest, dass er so schwer war, als hätte sie beim letzten Mal vergessen, ihn auszupacken. Die Ecken waren abgestoßen, aber der Griff hielt noch, und die Schlösser schnappten auf, kaum dass Van Leeuwen sie ausprobierte.
    Im Licht der schmucklos verkleideten Lampe an der Wand setzte er sich neben den offenen Koffer auf den Boden, um zu schauen, was er enthielt. Dabei fertigte er in Gedanken eine Liste aller Gegenstände und ihrer möglichen Bedeutung an, wie an jedem Tatort. Unter einer sorgfältig gefalteten Wolldecke fand er als Erstes eine alte Schirmkappe mit Schottenmuster, die Simone als Mädchen gern getragen hatte.
    Dann fand er ein dickes Kuvert aus braunem Papier, halb zugeklebt, ohne Beschriftung.
    Er fand einen abgewetzten Rindslederhandschuh, hellbraun. Er fand ein Bündel Briefe, mit Bindfaden verschnürt.
    Er fand eine zerfledderte schwarze Kladde, die sich als Notizbuch entpuppte, die Seiten bedeckt mit verblasster grüner Tinte: Gedanken für Artikel, Beobachtungen, Stilübungen.
    Er fand eine billige Plastikuhr zum Schwimmengehen.
    Ah, der silberne Amethystring, der einmal ihrer Mutter gehört hatte und den sie wenige Wochen vor ihrer ersten Untersuchung in der Klinik noch hektisch gesucht hatte.
    Er fand Stadtpläne von Siena, Florenz, Lissabon, Rom. Lissabon? Da waren wir doch nie zusammen, dachte Van Leeuwen, und allein ist sie dort auch nicht

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