Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
gewesen.
Er fand vier Stücke eines Puzzles, bunt, aber abgegriffen, aus der Zeit, als sie noch Muße für Spiele hatten. Als Simone sich die Regeln noch merken konnte, als sie noch wusste, wie man ein Stück an die Stelle legte, an die es gehörte, damit das fertige Bild einen Sinn ergab.
Er fand drei verschrumpelte Kastanien.
Er fand ein Paar teuer aussehende Ohrringe, Weißgold und Platin, in einer mit rotem Samt ausgeschlagenen Schatulle. Schöne Stücke, etwas schwer vielleicht. Die müsste ich kennen, dachte Van Leeuwen und versuchte sich zu erinnern, wann er sie an seiner Frau gesehen hatte. Es gelang ihm nicht.
Wer war diese Frau, der dieses merkwürdige Sammelsurium gehörte ? Warum hatte sie das alles hier zusammengepackt ? Als hätte sie schon vor Jahren geahnt, dass sie krank werden würde, und vorsorglich Erinnerungen gesammelt.
Er fand ein kleines Bild ohne Rahmen, in Seidenpapier eingehüllt, 15 mal 15 Zentimeter, auf Zink gemalt, von einem unbekannten Künstler. Es zeigte eine nackte Frau auf einem Badetuch am Ufer eines kleinen Bachs. Sie lag auf dem Rücken. Schatten von Piniengezweig warfen ein Muster auf ihre Haut. Ein Bein war angezogen, man sah ihre Scham. Ihr Gesicht war zur Seite gedreht, die Augen geschlossen, aber man konnte es erkennen. Zusammen mit den blonden Haaren konnte man es durchaus erkennen.
Siena, dachte Van Leeuwen, der kleine Fluss unter dem Weinberg. Etwas in ihm verschob sich, als könnte ihm gleich übel werden.
Aus dem nur halb zugeklebten Kuvert rutschte ein Foto heraus, das Polaroid eines lächelnden jungen Mannes mit dunklen Haaren – schlank, sonnengebräunt, schön wie ein Stummfilmstar –, der Van Leeuwen vage bekannt vorkam. Wer war dieser Mann ? Hinter dem unschuldig wirkenden Lächeln glaubte der Commissaris eine Mischung aus Boshaftigkeit und Vulgarität zu erkennen. Warum besaß Simone dieses Foto ? Warum hatte sie es aufbewahrt ?
Neben dem Kopf des Mannes ragte ein Turm aus rötlichem Stein in einen strahlend blauen Himmel, unverkennbar das Rathaus von Siena.
Weißt du noch, wie glücklich wir in Siena waren ?
Wir waren überall glücklich.
Aber in Siena waren wir besonders glücklich.
Vielleicht sollten wir noch einmal dorthin fahren, dachte Van Leeuwen; vielleicht ist das der beste Ort, um uns ein Stück der Vergangenheit zurückzuholen, besser als Madrid oder Paris oder Rom.
Er dachte an all die Orte, an denen sie glücklich gewesen waren, an die Hügel Kastiliens im Frühling, die Weinberge der Toskana im August, an Venedig im Herbst und die schneebedeckten Berge der Schweiz. Das war ihre letzte gemeinsame Reise gewesen, Klosters im Winter, nur ein paar Tage über Silvester. Er erinnerte sich noch an das Feuerwerk, an den Widerschein der bunten Raketen auf den weißen Hängen.
Ganz am Anfang ihrer Ehe, als das Geld noch nicht zu mehr reichte, waren sie nur nach Zandvoort gefahren und am Meer spazieren gegangen. Es war immer kalt gewesen und immer schlechtes Wetter, ein tiefer, grauer Himmel über den bleiernen Wellen der Nordsee, und sie waren eng umschlungen den langen Strand entlanggelaufen. Er sah es vor sich, als wäre es gestern gewesen, wie sie über den endlosen verlassenen Strand gingen, er hörte das Rauschen der Wogen und die einsamen Schreie der Möwen, und er spürte Simone in seinem Arm, wie sie sich an ihn schmiegte und Schutzsuchte vor den schneidenden Böen, die über den klammen Sand fegten.
Auch in Zandvoort waren sie glücklich gewesen. Glück ist, zu wissen, warum man lebt , hatte Simone damals gesagt.
Und zu wissen, warum man weint, dachte Van Leeuwen.
Er wollte den Koffer gerade wieder schließen, als er ganz unten einen Flecken Rot leuchten sah: ein Höschen aus roter Seide, dessen Gummizug mit schwarzen Pailletten bestickt war. Zusammengeknüllt wie ein benutztes Taschentuch lag es da, und Van Leeuwen fragte sich, was es in Simones Koffer zu suchen hatte. Er hielt es ins Licht. Es schien in seiner Hand zu atmen. Die Größe konnte passen, aber es gehörte ihr trotzdem nicht; niemals hätte seine Frau ein solches Dessous angezogen. Er legte es zurück. Nie, dachte er; wie oft hast du in den letzten Minuten das Wort nie gedacht ?
Er spürte, wie sein Magen sich umdrehte. Deine Frau hätte so was nicht getragen, aber vielleicht eine andere Frau, eine Frau in deiner Frau, die sich zeigte, wenn sie nicht mit dir zusammen war. Für wen hat sie dieses Höschen angezogen, für einen anderen Mann oder nur für sich ? Wann
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