Und was, wenn ich mitkomme?
Herbergen trotz fremder Leute im selben Raum recht gut, oft sogar besser als in den Doppelzimmern irgendwelcher Pensionen. Ich hoffe also, heute Nacht ordentlich Kraft tanken zu können. Meine größte Sorge ist, ob bei dieser hohen Luftfeuchtigkeit die Wäsche trocken wird. Man darf immer nur so viel waschen, wie man am nächsten Tag an den Rucksack hängen kann. Wir haben Lust auf saubere Wäsche aus der Maschine, auf leichte, bequeme und weiche Schuhe. Ich würde gerne Seidenstrümpfe anziehen und einen Rock oder irgendetwas anderes Feines. Schön wären auch stinknormale Jeans und Pulli oder eine Bluse. Die selbstverständlichsten Dinge werden auf einmal begehrenswert und besonders — und vielleicht sind sie es ja auch?
Wortlos reichen wir uns unsere Tagebücher zurück. Kein Kommentar heute, kein verbindender Austausch über das, was wir erlebt haben. Jeder bleibt mit seinen Gedanken für sich allein. Dabei wäre es schön, wenigstens jetzt zu retten, was zu retten ist und ein bisschen nett zueinander zu sein. Denn das, was wir geschrieben haben, entspricht ganz und gar nicht unserem wirklichen Erleben. Was in unseren Tagebüchern steht, klingt nach einem ganz normalen Wandertag. Aber es sagt nichts über uns aus. Die Wahrheit ist, dass wir einfach nicht mehr können. Wir haben keine Kraft mehr, nicht einmal, um uns voreinander zu verstecken. Es ist nichts übrig, um irgendwelche Spielchen zu spielen. Wir schaffen es bloß noch, uns so zu geben, wie wir uns wirklich fühlen und wie wir wirklich sind. Keiner von uns beiden kann über seinen Schatten springen, keiner kriegt seinen Frust unter die Füße. Stattdessen zicken wir uns an, leise und ohne viele Worte. Schließlich sind wir hier nicht allein. Und unsere Auseinandersetzung geht niemanden etwas an.
Mittlerweile ist es wohl nach zehn. Pit hat sich längst in seinen Schlafsack verzogen und ist sofort eingeschlafen. Auch aus den anderen Betten höre ich gleichmäßiges Atmen. Es ist dunkel und alles schläft. Pit neben mir schnorchelt leise vor sich hin. Ich bin empört: Wie kann er seelenruhig schlafen, nach diesem Tag und trotz der Anspannung zwischen uns beiden? Ich jedenfalls finde keine Ruhe. Irgendwie muss ich mir Luft machen. Also schäle ich mich aus meinem Schlafsack, schlüpfe in Hose und Fleecejacke, zücke meine Taschenlampe, die ich für solche oder ähnliche Zwecke in der Innentasche meines Schlafsackes aufbewahre, und schleiche leise aus dem Schlafsaal. Vor der Herberge stehen auf einer Veranda ein klobiger Tisch und Bänke aus Holz. Ich lasse mich nieder, und weil ich niemanden zum Reden habe, schlage ich mein Tagebuch auf und beginne, mir meinen Frust von der Seele zu schreiben:
Ich bin stinksauer und kann nicht schlafen, obwohl ich schlagkaputt bin. Zweimal hat Pit heute sein Genervtsein an mir ausgelassen, und das dritte Mal gerade eben vor dem Schlafengehen...
Es ist so schwer, ihm zu sagen, was er besser oder anders machen könnte. Ich habe den Eindruck, solange ich alles toll finde, kommen wir prima miteinander aus. Oder wenn ich ihm eine Möglichkeit biete, mir etwas abzunehmen, was ich selbst nicht schaffe, wie zum Beispiel meinen Rucksack noch auf seinen zu laden... Ist ja super, dass er mir hilft. Ist aber gleichzeitig auch blöd, sich so hilfsbedürftig zu fühlen. Meine Grenze ist sicherlich meine körperliche Schwäche. Aber Pit hat auch seine Grenzen, er weiß und kann auch nicht alles, und was ist dabei, wenn ich dann zur Abwechslung mal ihm helfe? Heute hat er einmal gesagt, dass er lieber den gelben Pfeilen den Berg hinauf folgen würde, mir zuliebe aber den leichteren Weg die Straße entlang geht. Und warum? Natürlich, weil ich so schwach bin und er als der Stärkere eben Rücksicht nimmt. Na toll...
Wir wollten keine Vergleiche mehr. Aber sobald es stressig wird, funktioniert auch hier in Spanien unser Beziehungssystem genauso wie zu Hause: Pit kann sich stark fühlen, weil ich schwach bin. Na meinetwegen: Soll er sich doch so toll und überlegen fühlen, wie er will. Das könnte mir eigentlich so was von egal sein. Aber ich habe den Eindruck, dass ich auf diese Weise auch noch seine Grenzen mittragen soll, nämlich zugeben zu müssen, dass er auch nicht alles auf die Reihe kriegt. Und ihn ständig vor diesem Eingeständnis zu schützen, dazu habe ich einfach keine Lust mehr.
Vielleicht sollte ich auch endlich schlafen gehen. Wer weiß, wie spät es mittlerweile ist. Außerdem wird mir kalt, und ich fühle mich
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