Und was, wenn ich mitkomme?
Entscheidungen gibt? Wer will schon sagen, was besser ist, hierbleiben oder weitergehen?
Muxía liegt mit seinen strahlend weißen Häusern und winkligen Gassen wie ein Kleinod auf der Spitze einer vorgelagerten Halbinsel, um die sich das Meer bauscht wie ein blausamtener Königsmantel. Wir steigen zuerst hinauf zur Herberge, die modern und großzügig und hell und sehr gepflegt ist und einen sonnenbeschienenen Innenhof hat, ausgestattet mit großen Stahlwaschbecken und Wäscheständern. Wir waschen sofort unsere T-Shirts und richten uns ein. Es ist mittlerweile drei Uhr — Zeit fürs Mittagessen, das wir recht schnörkellos in einer Bar im Ort einnehmen.
Danach spazieren wir an die äußerste Spitze der Halbinsel, ein Ort, der mir im Augenblick als der schönste der Welt erscheint und an dem ich mich gerade vollkommen und ganz und gar richtig fühle. Schwarze, wasserglänzende Felsen türmen sich übereinander, und die Gischt schäumt weiß und ungestüm meterhoch an ihnen empor. Die Sonne wirft Lichtpunkte aufs Wasser, und der Wind zerrt an meinen Haaren. Pit klettert über die Steine bis dicht ans Wasser, während ich mich im Windschatten eines Felsens niederlasse. Ich schaue ihm hinterher, wie seine Gestalt immer kleiner wird vor der überwältigend schönen Kulisse, und ich denke, dass ich ihn nicht verlieren will. Aber warum sollte ich auch? Da ist einer, der zu mir gehört und ich zu ihm.
Freunde und Bekannte haben Pit und mich oft so erlebt, als stünden wir zusammen wie unter einer gläsernen Glocke, nah beieinander und geschützt vor der Außenwelt, aber trotzdem sichtbar und transparent. Warum haben andere das schon immer so empfunden, ich selbst aber nicht? Pit ist mindestens 200 Meter von mir entfernt. Ich weiß nicht, wie es ihm gerade geht oder was er denkt. Aber ich fühle mich nicht einsam. Es ist schön, hier zu sitzen und Zeit und Muße zu haben, um meine Gedanken aufzuschreiben :
Jetzt bin ich endlich angekommen. Ich sitze ca. 100 Meter von der Kirche Virgen de la Barca entfernt wind- und menschengeschützt hinter einem Felsen, vor mir liegt der Atlantik — weit und blau wie der Himmel — und hinter mir ein langer Weg, äußerlich und innerlich. Ich bin froh, hier zu sein, und muss für diesmal nicht weiterkommen. Endlich ein Gefühl von »genug«. Dies ist für mich der ergreifende Moment, den andere Pilger vielleicht in Santiago erleben. Mein Ziel ist hier!
Pit ist zurückgekehrt, außer Atem und mit von Wind und Freude geröteter Haut. »Kommst du mit?«, ruft er und hat mich schon an der Hand hochgezogen. Ich stopfe rasch Tagebuch und Kugelschreiber in meinen Ministoffbeutel, den ich jetzt schon so viele Wochen mit mir herumtrage und der dringend eine Wäsche nötig hätte. Aber egal… Vieles ist in den letzten Wochen unbedeutend geworden und anderes wichtig. Die Prioritäten haben sich ganz neu geordnet.
Hand in Hand steigen Pit und ich über die Felsen dorthin, wo das Kirchlein Virgen de la Barca mit seinen dicken Mauern und zwei Türmen unerschütterlich Wind und Wetter trotzt. Die Legende erzählt, dass Maria, die Mutter Gottes, über das Meer gekommen und an dieser Stelle an Land gegangen sein soll, um dem Apostel Jakobus bei seiner Missionsarbeit in Spanien zu helfen. Ihr zu Ehren ist die Kirche erbaut worden. Wir besichtigen den Innenraum, der düster ist, aber voller Gold. Es gibt ein Altarbild, das die gesamte vordere Front des Raumes einnimmt. An den Wänden und von der Decke hängen Schiffsmodelle. Für Jesus ist auch hier nur eine verschwindend kleine Nische reserviert, so, als wäre er nicht sonderlich bedeutungsvoll und der Glaube an ihn längst nicht so wichtig wie der an seine Mutter. Dabei halte ich es für wesentlich realistischer, an einen Mann zu glauben, dessen Existenz wenigstens historisch nachgewiesen ist, als daran, dass eine Frau, auch wenn sie die Mutter Gottes ist, Tausende von Kilometern über das Meer spaziert ist, um einem Jünger ihres Sohnes beizustehen. Zumal mir auch die Jakobus-Legende mehr als fragwürdig erscheint. In unserem Outdoor-Handbuch ist zu lesen, dass die vermeintliche Entdeckung des Jakobusgrabes — letztlich nicht mehr als ein paar Knochen, die Bauern im Wald fanden — für Asturien gerade recht kam, um leichter vom christlichen Europa politische und wirtschaftliche Unterstützung zu bekommen, vor allem aber, um den Kampf gegen die Mauren zu legitimieren. Jakobus selbst soll sogar im Jahr 844 leibhaftig erschienen sein, um die
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