Und was, wenn ich mitkomme?
Und plötzlich standen wir vor der Herausforderung, irgendwie mit diesen ganzen Widrigkeiten fertig werden zu müssen.
Sollen wir zurückweichen, aufgeben, kneifen? Oder schaffen wir es, unsere persönlichen Grenzen zu erweitern? Was können wir dabei verlieren und was gewinnen? Vielleicht gibt es gar kein Entweder — oder. Vielleicht ist es längst nicht so wichtig, welche Entscheidungen wir treffen, weil es weder richtige noch falsche gibt. Vielleicht genügt es, zwischen dem zu wählen, was unser Wohlbefinden entweder begünstigt oder verschlechtert. Was dient dem Leben und der Lebensfreude und was nicht? Blöd ist nur, dass man das nicht vorher weiß, dass man sich immer auf ein Wagnis einlassen muss. Aber was heißt schon »muss«? Etwas, das man muss, kann niemals eine freie Entscheidung sein. Dann aber ist Freiheit wohl, sich zu einem »Ich will« zu bekennen. Und genau das haben wir getan. Wir wissen nicht, was uns erwartet, aber wir haben uns trotzdem noch einmal auf den Weg gemacht, nicht, weil einer von uns den anderen dazu gedrängt oder gezwungen hätte — alles wäre möglich gewesen, sogar, Geld hin oder her, der Rückflug. Aber letztendlich wollte keiner von uns beiden jetzt schon nach Hause. Wir wollten weiter, weil das Ende sonst nichts als eine Niederlage gewesen wäre, weil sich unsere Sehnsucht noch nicht erfüllt hatte, weil wir noch nicht erreicht hatten, weswegen wir aufgebrochen waren. Doch jetzt, wo wir unseren freien Entschluss in die Tat umsetzen, ist es plötzlich, als hätte sich das Blatt gewendet: der Rucksack auf dem Rücken fühlt sich vertraut an und längst nicht so schwer wie befürchtet; wir fühlen uns frisch und voller Energie und erleben die Landschaft wie eine Überraschung. Ob frei gefällte Entscheidungen tatsächlich einen Einfluss haben auf die Sicht der Dinge? Jedenfalls scheint es auf einmal völlig abwegig, dass wir ernsthaft überlegt haben, nach Hause zu fliegen.
»Dass es uns besser geht, hat bestimmt damit zu tun, dass wir uns ein paar Tage ausgeruht haben«, fasse ich zusammen, »aber wahrscheinlich auch damit, dass wir beide das hier durchziehen wollen und deshalb bereit sind, noch was in Kauf zu nehmen, was immer das auch sein wird.«
Pit grinst. »Also doch alles eine Frage der Einstellung und Sichtweise?«
»Vielleicht...«, gebe ich zu. Ob ich mich immer entscheiden kann, das, was passiert, gut zu finden, will ich lieber nicht beschwören. Für den Moment scheint es uns zu gelingen. Aber die ausgeruhten Muskeln, der blaue Himmel und die abwechslungsreiche, herb-schöne Landschaft machen es uns leicht.
Nach eineinhalbstündigem Marsch biegen wir in einen Waldweg ein, der direkt an die Atlantikküste führt. Vorher jedoch geht es an einem alten Gemäuer vorüber, das so verlassen wirkt wie ein Friedhof. Aus dem Hof dahinter stürzen plötzlich wie aus dem Nichts vier oder fünf riesige, zerrupfte Köter auf uns zu. Beherzt greifen wir zu unseren Wanderstöcken. Aber eine Frau pfeift die Hunde auf den Hof, der wohl doch nicht so unbewohnt ist, wie es auf den ersten Blick schien.
Wir lassen Häuser und Höfe hinter uns und schlagen uns durch niedrige Kiefernpflanzungen. Ein Rebhuhn flattert erschrocken auf. Wilde Blumen leuchten in allen Farben, Gräser fangen die Sonnenstrahlen auf. Zehn Minuten später stoßen wir auf eine mächtige, mit flachem Ginster bewachsene Düne. Pit jauchzt vor Freude, und ich lasse mich gerne anstecken von seiner Hochstimmung. Wir sind ganz alleine hier oben und ohne Deckung und ohne Hemmungen, aber voller Übermut pinkeln wir synchron ins blühende Gebüsch. »Na, haben wir nicht eine das Wohlbefinden begünstigende Entscheidung getroffen?«, lache ich und breite die Arme aus. Gerade könnte ich die Welt umarmen.
Im sandigen Boden verlaufen kreuz und quer schmale Trampelpfade. Manche führen zu hohen Steilklippen, an die die Flut das Meer klatscht wie nasse Wäsche. Andere schlängeln sich zum Strand hinunter, an dem sich turmhohe Wellen austoben. Ihre Wucht und Gewalt hat tiefe Rinnen in den Sand gegraben, sodass das Wasser weit ins Land hineinschwappt. Pit und ich ziehen unsere Schuhe aus und patschen durch die wadentiefen Lachen. In jeder Hand einen Schuh schwenkend renne ich auf das wild donnernde Meer zu und brülle ihm mit aller Kraft entgegen. Vogelschwärme fliegen auf. Zurück bleiben hundert winzige Vogelfußabdrücke im Sand. Spuren von Menschen finden wir keine. Und unsere verweht der Wind, kaum, dass wir sie
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