Und was wirst du, wenn ich gross bin
durch die Zimmerdecken, welche dank ihrer Leichtbauweise eine hervorragende Akustik boten. Beinahe jeden Abend gab er seine ganz persönliche Version von Psycho zum Besten:
Es begann immer mit einer langen, ausgedehnten Stille. Dann hob ein leises, hohes, weiblich anmutendes Lachen an:
»Hihihihihihi!«
Das wiederholte sich, bis es plötzlich in einen lauten Schrei kippte.
»HihihihiUUUUUUUUAAAAA!«
Anschließend kam der Teil mit Text:
»Ich bring dich um, du Schlampe. Ich bring dich um! Da, da, da!«
Und dann folgte das Finale, lautstarke Geräusche heftig gerückter, umfallender und herumgeschleuderter Möbel. Man hatte das Gefühl, der Schrank oder der Stuhl schlüge direkt neben einem zu Boden. Das Ganze wiederholte sich an manchen Abenden zwei- bis dreimal. Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, als er die erste Aufführung gab, wäre meine Freundin mit Sicherheit zwei Stunden später wieder in München wohnhaft gewesen. Trotzdem - auch zu zweit waren wir besorgt, um es vorsichtig auszudrücken. Aber unser Vermieter, ein Bekannter, teilte uns fröhlich mit, das sei kein Problem, der Mann wohne nachweislich allein, sei ein wenig krank und spiele immer wieder die Szene seiner Trennung durch. Ich dachte an meine eigene Vergangenheit und befand, ich sei wohl ein psychisch eher stabiler Mensch, zum Glück. Trotz dieser beruhigenden Information konnte man jedoch nicht behaupten, das Gefühl der Wohnlichkeit wäre durch die allabendlichen Szenen nachhaltig gesteigert worden. Zumindest war es uns beiden fortan eine Warnung, denn es zeigte uns auf, was passiert, wenn man sich, ermüdet vom Aufeinanderleben, allzu sehr gehenlässt. Ich habe dann eine gewisse Genugtuung empfunden, als meine Freundin, nachdem ihre Musicalschule begonnen hatte, regelmäßig mit Gesangsübungen zurückschlagen konnte.
Was die Universität Lüneburg betraf, so hatte ich einen Blitzstart, ähnlich wie in Stirling. Die Vorlesungen waren durchaus spannend, auch wenn sie nicht sehr »angewandt« waren. Und es gab sehr schnell Erfolge zu vermelden. Nachdem ich für ein Referat das Buch eines weitestgehend durchgeknallten Engländers, in dem er eine Art eigene Logik beziehungsweise Mathematik entwickelt, zusammengefasst hatte, wurde ich mit einer Ausnahmegenehmigung des Dekanats zum Hilfswissenschaftler befördert, was Erstsemestern normalerweise nicht gestattet ist. Erst ab der Zwischenprüfung nach vier Semestern, so glaubt man, besitzen Studenten die notwendige Reife für diese Aufgabe. Selbige war anfangs auch durchaus spannend, es gab noch zwei weitere Werke zu exzerpieren, und ich hatte Spaß daran, eigene Modelle zu entwickeln, die ich heute selbst mit großer Anstrengung nicht mal mehr im Ansatz verstehe. Aber das gehört zum Studentsein dazu wie Wasser und Brot zum Gefängnis: Dinge zu wissen, die niemand weiß. Außerdem Wörter zu verwenden, die so selten benutzt werden, dass man anhand der Fingerabdrücke darauf feststellen kann, wer sie vorher schon einmal verwendet hat. Und das Wichtigste ist, dabei das Gefühl zu haben, dass die ganze Welt nur aus Idioten besteht, die zu bemitleiden sind, zumindest so lange, bis man mit der Uni fertig ist und selbst das gesellschaftliche Ruder übernimmt, woraufhin dann der Hase endlich in die richtige Richtung läuft. Wenn diese Phase schließlich wieder abklingt, beschleicht einen das bedrückende Gefühl, dass der große Welt-Hase nach Vorstellungen von Studenten läuft, die die besagte Phase nie hinter sich gelassen haben. Meine Beobachtungen bei den einzigen beiden BWL-Vorlesungen, die ich als Pflichtfach besucht habe, stützten diese These. Ich war zu diesem Zeitpunkt, also mitten in der Wichtigmacherphase, unschlüssig, ob ich die allgemeinwissenschaftliche Physik revolutionieren sollte wie einst Newton, mit einem Buch, das alles auf den Kopf stellt, oder aber die Wirtschaft - unter Auslassung der Betriebswirtschaft -, zur Not auch die Philosophie oder die Kultur. Nach Veröffentlichung meines weltverändernden Werkes würde es dann umgehend von mir »angewandt«. Zufrieden schwelgte ich in Begriffen wie Kybernetik (die man von Terminator I und II kannte), Systemik, Konstruktivismus und konnte in eine Konversation kurze, wissende Eingaben machen wie:
»Aah, St. Gallener Schule«, was dann je nach Plenum ein ernst beipflichtendes Nicken oder anerkennendes Staunen hervorrief. Wahrlich, auch für Studenten gilt das Bild, Zwerge auf den Schultern von Riesen zu sein und deshalb zu glauben, man
Weitere Kostenlose Bücher