Und was wirst du, wenn ich gross bin
Glücklicherweise traf es sich, dass ich einen Studiengang entdeckte, der mein neues Interesse an Kultur mit wirtschaftlicher Kompetenz und denkerischem Freiraum verband: Angewandte Kulturwissenschaften. Mir gefiel besonders das Wort »angewandt«, weil es viel aufregender klang als beispielsweise »Theoretische Kulturwissenschaften«. Inwiefern Kulturwissenschaften praktisch, also angewandt sind, ist eine andere Frage, die von Menschen beantwortet werden sollte, die sich damit auskennen. Grundsätzlich ist aber in den Begriffen eine Schizophrenie zu erkennen, die auch ein wenig den Geist meiner erneuten Studienzeit kennzeichnet.
Man kann dieses Fach nur in Lüneburg studieren, was insofern nicht unpraktisch war, als Lüneburg sehr nah an Hamburg liegt. Außerdem liegt Lüneburg noch an der Lüneburger Heide, die ein wenig wie Schottland wirkt, wenn man Schottland mit einer großen Bratpfanne flachklopfen würde. Böse Zungen behaupteten damals, ich hätte diesen Studiengang sowieso nur wegen meiner Freundin gewählt. (Das war natürlich völlig aus der Luft gegriffen, es gab jede Menge Gründe, auch wenn sie mir verständlicherweise nicht mehr alle einfallen. Das würde ja auch zu weit führen.) Als wäre ich jemand, der leichtfertig mit seiner Zukunft umgeht und irgendwelche Hirngespinste über eine vernünftige Ausbildung stellt. Und selbst wenn was dran gewesen sein sollte, muss man festhalten, Berufe hatte ich schon einige gehabt, Freundinnen nicht, da muss man eben Prioritäten setzen. Ich bitte allerdings darum, das jetzt nicht als Eingeständnis zu betrachten.
Was nun aber die Schizophrenie betrifft: Grundsätzlich ist ja jede Beziehung eine Form der Schizophrenie. Also der Versuch, aus zwei Persönlichkeiten eine Art Überpersönlichkeit zu zimmern. Und wie bei Schizophrenen wissen ja oft die beiden beteiligten Persönlichkeiten so gut wie nichts voneinander. Was in dem einen oder anderen Fall gar nicht unbedingt von Nachteil sein muss. Man darf ernsthaft bezweifeln, dass Dr. Jekyll das Wissen um Mr. Hyde fröhlicher gemacht hat. Bei uns beiden, also mir und Penthesilea, so wollen wir sie nennen wegen ihres kriegerischen Gemüts und ihres Ehrgefühls, war es nicht so, wir hatten schon eine recht gute Ahnung voneinander. Aber auf unsere äußeren Umstände traf es zu.
Ich studierte in Lüneburg und wohnte in Hamburg. Der Grund dafür war, dass Hamburg einfach größer ist. Oder teurer. Ach, was soll’s: weil ich bei der Frau sein wollte und man mit dem Zug nur eine Dreiviertelstunde von Lüneburg entfernt ist, die man gut nutzen kann, um zu lesen oder an die Frau zu denken. Aufgrund der angespannten Wohnsituation teilten wir uns ein Dreivierteljahr lang eine Einzimmerwohnung. Wieder zwei in einem, und in diesem Fall kann das durchaus zur Krankheit ausarten. Es war nur einer kurzen, uns durch uns selbst verordneten Zwangspause nach diesen zehn Monaten zu verdanken, dass die Beziehung weiterging. Bereits nach vier Monaten Zusammenwohnen - und da spreche ich gewiss auch Penthesilea aus dem Herzen - war ich so weit, Sachbücher über die Unzweckmäßigkeit zu schreiben, junge Liebe auf fünfzehn Quadratmetern ohne Trennwände einzusperren. So herrlich es ist, gemeinsam zu schlafen, man muss auch an die Wachphasen denken!
Jeder, der schon einmal miterlebt hat, wie aus einem erwartungsvollen »Spatzl, wann kommst du heim?« in Zeitlupe ein vollkommen enthusiasmusfreies »Bist du schon da?« geworden ist, weiß, wie ernst diese Warnung gemeint ist. Es gibt Dinge, die jeder mal erlebt haben sollte, wie Sex. Dann gibt es Dinge, die man nicht erleben muss, aber kann, wie Drogen. Und dann gibt es Dinge, von denen man einfach immer die Finger lassen sollte, wie das Zusammenwohnen in einem einzigen, zu kleinen Raum. Außer man ist selten zu Hause, weil man auswärts arbeitet, beispielsweise als Wildhüter in Australien.
Das Prinzip der gespaltenen Persönlichkeit setzte sich auch in der Nachbarschaft fort. Direkt über der Einzimmerwohnung war ein älterer Herr beheimatet, den man nur selten zu Gesicht bekam. Wenn man ihn traf, vermied er den direkten Augenkontakt und drückte sich, maximal kurz nickend, im Treppenhaus an einem vorbei. Selbst wenn man es herausforderte und absichtlich laut rief »Guten Tag« (das heimatliche »Grüß Gott« ist in Hamburg zu vermeiden), wirkte er nicht erfreut, sondern eher erschrocken, und huschte, ohne aufzublicken, schleunigst weiter. Dafür konnte man ihn hören, begünstigt
Weitere Kostenlose Bücher