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Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kemmler
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wäre groß.
    Ich glaube, das Wichtige ist immer das, was hängenbleibt. Einer meiner Favoriten, an den ich mich noch immer erinnere, war die Geschichte von Achilles und der Schildkröte: Wenn Achilles und die Schildkröte, die einen räumlichen Vorsprung bekommt, beide gleichzeitig loslaufen, dann kommt Achilles irgendwann da an, wo die Schildkröte losgelaufen ist. Die Schildkröte ist ja aber in der Zwischenzeit auch ein Stück gelaufen, natürlich nicht sehr weit. Wenn nun Achilles dort anlangt, ist die Schildkröte wieder ein Stück weitergelaufen. Das heißt, immer wenn Achilles da eintrifft, wo die Schildkröte war, ist diese schon ein Stück weiter. So kommt er ihr zwar immer näher, aber erreichen kann er sie nie. Und überholen gleich zweimal nicht. Der Mann, der sich das ausgedacht hat, war ein alter Grieche namens Zenon. Ich fand das die mit Abstand beste Beschreibung meiner bisherigen Versuche, etwas werden zu wollen, die ich jemals gehört hatte. Sie löste das Problem zwar nicht, aber sie machte es erkennbarer.
    So hätte alles gut werden können. Aber leider ging es mit meinem Rennpferd, der Hilfswissenschaftlerei, zunehmend bergab. Nachdem ich die erwähnten Bücher studiert hatte, bestand meine Tätigkeit zunehmend nur noch darin, Bücher zu kopieren. Ich habe im Grunde nichts gegen Kopieren, aber jede Woche sechs Stunden am Kopiergerät zu stehen war nicht ganz das, was ich mir unter Wissenschaften vorstellte, nicht mal unter Hilfswissenschaften. Ich empfand Titel und Aufgabe als schizophren. Auf mein Nachfragen hin wurde mir erklärt, normalerweise fühlten sich Studenten im Hauptstudiengang geehrt , kopieren zu dürfen, und eine andere Arbeit sei, mit Ausnahmen, bis zum Magister nicht vorgesehen. Das erklärt vielleicht, warum viele Akademiker Brille tragen, die ständigen Lichtblitze sind einfach nicht sehkraftförderlich. Auf meine Frage, wann diese Ausnahmen denn stattfänden, gab es leider keine befriedigende Antwort. Das bremste meinen Idealismus doch gehörig. Aber es war noch nicht das Ende der Fahnenstange.
    Das kam im Rahmen der jährlichen Feierlichkeiten zum Geburtstag der Stadt Lüneburg. Das Unheil, das mir für alle Zeiten eine akademische Karriere vermiesen sollte.
    Derjenige, dessen Wissenschaft ich Hilfe leisten sollte, hatte mich einige Zeit vorher gefragt, ob ich nicht mit ihm und anderen im Fachbereich an einem Stand Würste grillen könnte. Ehrenamtlich, natürlich. Das klang nicht völlig verkehrt, und ich signalisierte Bereitschaft. Zehn Tage vor dem Ereignis dann war plötzlich eine humorfreie Damenstimme auf meinem Anrufbeantworter, die mir, offensichtlich von meiner Beantworteransage pikiert, mitteilte, ich möge doch meine Kleidergröße für den Kostümverleih bei meinem Weisungsbefugten hinterlegen. Als ich tags darauf nachfragte, was damit gemeint sei, erfuhr ich, dass ich in mittelalterlicher Uniform, Strumpfhosen und Ballonshorts, ähnlich denen der vatikanischen Schweizergarde, mit einer Hellebarde in der Hand grillen sollte. Nun bin ich bei Kleidung eigen; wenn ich eine ausgebeulte Hose um meinen Hüftbereich tragen möchte, dann fresse ich ein Jahr lang täglich drei Sachertorten oder schaue mir Filme ab achtzehn an. Dazu kam, dass ich als Kind sehr schüchtern war und öffentliche Zurschaustellung immer auch eine Überwindung für mich darstellte. In Kleidung, zu der ich auch nicht im Ansatz stand, musste sich dieses Gefühl potenzieren. Ich deutete also höflich, aber bestimmt an, dass ich leider nicht zur Verfügung stehen würde. Der mir eigentlich sehr wohlgesonnene Wissenschaftler erklärte mir daraufhin, dass es eben auch an der Universität auf Einsatz ankäme. Der Obermufti des Fachbereichs, dem auch ich somit weitläufig unterstand, lege Wert auf solche Dinge und würde sie auch entsprechend belohnen. Es wäre für die Karriere also hilfreich, mitzugrillen, zumal es sich bei dem Stadtfest um ein Steckenpferd der Gattin des Obermuftis handle - eben jener Dame, die mir auf Band gesprochen hatte -, wobei anzumerken sei, meine Position sei nicht unangreifbar, mein Hilfswissenschaftskollege sei im Augenblick sowieso fachlich angesehener, da er im Gegensatz zu mir einen humorvollen und sogar englischen Anrufbeantworterspruch präsentiere.
    Wer meinen Kollegen jemals hatte englisch reden hören, wusste, was dieser Satz für mich bedeutete. Mir fielen Schimpfworte in schottischen und anderen Dialekten ein, von denen ich bis dahin noch nicht mal gewusst hatte,

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