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Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kemmler
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Siebziger abgeflacht, auch meine Eltern noch ansatzweise anhingen. Er lautete: »Kunst ist brotlos«. Das traf natürlich nicht auf Elvis, seine Erben, Liberace oder die Stones zu, auch nicht auf Robert Redford, Frank Stella oder Will Quadflieg, aber das waren ja auch »die Anderen«. Wobei »die Anderen« die waren, die im Fernsehen oder in der Presse auftauchten. Wie »die Anderen« jemals zu »den Anderen« geworden waren, wie sie es geschafft hatten, direkt vom Entschluss zum Künstlerdasein dahin zu gelangen, »jemand anders zu sein«, war ein Geheimnis, das meiner Meinung nach seit Anbeginn der Zeit von Generation zu Generation weitergereicht wird. Irgendwann, es muss wohl sein, bevor Eltern zu Eltern werden, nehmen deren Eltern sie beiseite und sagen ihnen:
    »Sohn, Tochter, wisset: Wenn euer Kind mal künstlerisch tätig wird, fördert es. Aber wenn es anfängt, das beruflich machen zu wollen, so sagt ihm oder ihr: Das ist aussichtslos! So wie es bei euch aussichtslos war. Denn Künstler werden nur die Anderen. Falls ihr zeitgleich mit dem Entschluss eures Kindes, Künstler zu werden, einen Artikel über euren Sprössling im Feuilleton der Zeit lest, euer Kind die Hauptrolle in einem Hollywoodblockbuster bekommt oder im Fernsehen zu sehen ist, dann seid ihr Eltern eines Anderen. Dann mag der Balg in Gottes Namen fortfahren.«
    Man muss auch hier vielleicht noch einmal erwähnen: Das war zu der Zeit, als es noch keine Castingshows gab und Talentlosigkeit noch kein Karriereplus war. Heute haben viele Eltern den traditionellen Lehrsatz womöglich vergessen. Ich war mir nicht sicher, ob er überhaupt sinnvoll war. Einerseits ist es gut, Widerstände zu überwinden, andererseits ist Unterstützung schon eine feine Sache.
    Jedenfalls ging ich frohen Mutes zu erwähntem Vorsprechen, in der Gewissheit, einen guten Job an Land zu ziehen. Schließlich hatte ich mal bei einem Stück in der Schule, das dann nie geprobt und aufgeführt wurde, vorgesprochen und eine Hauptrolle ergattert. Was also sollte schiefgehen? Glücklicherweise war ich derart ahnungslos, dass ich weder die Kollegen erkannte, die vorsprachen, noch die Kollegen, die die Rollen bekamen. Es handelte sich - mit einer Ausnahme - um namhafte und großartige Schauspieler. Die Ausnahme war ich, was mir aber nicht weiter auffiel, weil ich die Rolle und somit den Job bekam.
    Das Stück wurde im Rahmen eines Theaterfestivals zwei Wochen lang aufgeführt, und es war ein Stück mit vierzehn Schauspielern und einem Zuschauer. So gesehen war ich doppelt froh, eine Festgage zu bekommen. Wenn man das Stück anschauen wollte, bekam man einen Termin im Rathaus, wurde dort zur vereinbarten Zeit von einer Schauspielerin begrüßt, nach zehn Minuten einer weiteren Schauspielerin übergeben, die einen an der Hand nahm und losmarschierte, und dann begann eine Reise über verschiedene Stationen durch die Stadt. Der Text der Schauspieler war vorgegeben, die Zuschauer konnten sprechen, wenn sie wollten, oder auch nicht. Ich teilte mir mit einer Schauspielerin die letzte Station, wir empfingen den Zuschauer in einer U-Bahn-Station und begleiteten ihn die Rolltreppen hinauf bis zu einem öffentlichen Platz, wo er an einem Straßencafé wieder freigelassen wurde und sich mit anderen Zuschauern über die erfahrenen Traumata austauschen konnte.
    Das Ganze bedeutete jeden Tag drei Stunden Arbeit und machte wirklich Spaß. Es war natürlich auch Kunst und sehr ehrenwerte noch dazu, das Stück wurde mit Kritikerlob überschüttet und heimste zwei Jahresauszeichnungen der Münchner Presse ein. Streng genommen war ich also »ein Anderer« geworden. Dummerweise hab ich es nicht im Geringsten bemerkt. Ich hatte einfach keinen tiefen Bezug zur experimentellen Kunst. Vielleicht war ich zu jung dafür, wogegen allerdings spricht, dass sich das später nicht wirklich ändern sollte. Manchmal ist Abstraktion okay, aber Hochglanz hat auch was. Ich konnte gut damit leben, Miles Davis während seines gesamten Konzertes nur von hinten zu sehen. Aber ich gebe zu, als ich Nurejew in der Arena von Verona den Don Quichotte tanzen sah, war ich schon sehr froh über die glitzernde Kulisse des Zauberwaldes. Gut, damals war ich auch erst elf Jahre alt, aber das Prinzip scheint sich durchzuziehen. Was Kultur im intellektuellen oder experimentelleren Sinne betrifft, bin ich wohl eine Art Forrest Gump, ich erlebe immer wieder besondere Momente, aber mehr als zufälliger Gast.
    Mit am meisten faszinierte mich

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