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Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kemmler
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deshalb ein Gespräch am letzten Tag des Theaterstückes, als gerade alles vorbei war. Ich unterhielt mich mit einem Jungen, der an dem Platz, wo wir spielten, wohnte und dort währenddessen immer auf seinem Skateboard trainiert hatte. Er kam auf meine Kollegin und mich zu und fragte, ob wir wirklich eine Sekte seien. Auf unser Nachfragen erzählte er, man wisse im Viertel, dass wir zu einer Sekte gehörten, die sich »Die Auserwählten« nannte, und die jeden Nachmittag arglose U-Bahn-Fahrer bekehren wollte. Leider konnte er nicht sagen, was unsere Kernbotschaft war, das hätte ich natürlich gerne erfahren. Schade, dass wir nicht »Die Anderen« hießen, das hätte gepasst.
    Aber seltsamerweise hatte ich durch diese Begebenheit plötzlich Blut geleckt und wollte mehr Kunst. Was Erfolg und Geld nicht erreicht hatten, hatte der Trotz geschafft. Als Außenseiter missverstanden zu werden - genau das weckte meinen Ehrgeiz.
    Glücklicherweise hatte ich mich parallel zu meinen Aktivitäten als Schauspieler mit einer jungen Musicaltruppe angefreundet, die sehr erfolgreich in einem Theaterzelt auftrat. Erfolgreich allerdings mehr im Sinne des Kunstverständnisses meiner Großeltern, also mit euphorischen Zuschauerreaktionen bei gleichzeitigem Lohnverzicht. Es gelang mir jedoch, eine tatsächlich bezahlte Stelle im Büro - einem Wohnwagen, der neben dem Zelt stand - zu ergattern. Ich war für den Vorverkauf zuständig. Nicht direkt künstlerisch, aber direkt am Platze gelegen, und was hätte ich stimmlich bei einem Musical schon ausrichten können, Schauspieltalent hin oder her?
    Auch auf anderer Ebene ergaben sich weitere Beziehungen zur Kunst, in diesem Falle zu einer der auftretenden Künstlerinnen. Dieses Leben hatte was, gerade wegen des Zelts und der Arbeit im Bauwagen. Ich überlegte, selbst am Platze wohnhaft zu werden. Es gab einen Wasseranschluss zum Duschen (es war Frühjahr), und eine Dauerparkgenehmigung für Mitarbeiter. Ein Bekannter stellte mir nach Bekanntwerden meiner Pläne auch einen ausrangierten Ford Campingbus zur Verfügung, der eine Schlafgelegenheit bot. Das roch eindeutig nach Freiheit. Als Kind hatte ich die Fernsehserie Arpad, der Zigeuner geliebt. Sollte mir solch ein Leben bevorstehen? Weite Hemden und gestreifte Hosen besaß ich bereits. Außerdem ein Motorrad, was heutzutage als Pferd durchging. Ich stellte sofort den Campingbus vor Ort auf und zog mit Teilen meiner Habseligkeiten in selbigen ein. Da in ein solches Auto nicht viel hineinpasst, war in diesem Fall Packen keine umzugsrelevante Problematik.
    Ich habe sogar einmal im Bus geschlafen. Aber irgendwie war immer noch etwas zu erledigen, was nur zu Hause ging. Außerdem arbeitete mein Vater auswärts, so dass ich unter der Woche sein Auto benutzen konnte und damit Abend für Abend ins alte Heim und Bett fuhr. Und wenn man den ganzen Tag im Geiste bereits ein Zigeunerleben in Künstlernähe führt, ist es abends eigentlich egal, wo man schläft. In meinem Verständnis war ich ausgezogen, wohnte wild und war eben sehr oft bei mir zu Hause auf Besuch.
    Mit der Kunst war es ähnlich, das Musical, eines der Besseren, machte mir immer noch Freude beim Zusehen. Aber das Theaterzelt bot, nomen est omen, auch Theater. Eine Premiere stand bevor, von deutlich höherem kulturellen Wert, zumindest dem Gebaren der Beteiligten nach, speziell dem der Intendanz.
    An die rauschende Premiere, die von der Presse ebenfalls heftig belobigt wurde, erinnere ich mich nur noch undeutlich. Ich habe nur noch ein Bild vor meinem geistigen Auge:
    Ein beleibter Schauspieler im Lederslip wurde von einer sehr beleibten Schauspielerin unter Rezitieren des Textes ausgepeitscht. Heute ein absolut üblicher Vorgang, den jede zweite Internetseite zu bieten hat. Damals war es für mich ein Grund, nochmal in mich zu gehen. Und als ich dort angelangt war, musste ich zu meinem Bedauern feststellen, dass ich vielleicht doch kein vollwertiges Mitglied »der Anderen« war, nicht mal ein vollwertiger Zigeuner, und dass ich es lieber nochmal mit Studieren probieren sollte.
     

20
     
    hilfswissenschaftler
     
    Beim Theater hatte ich Inspiration, Sinnlichkeit und auch Freude erfahren. Also nicht direkt beim Theater, aber immerhin lernte ich meine erste richtige Freundin dort kennen. Sie war allerdings gerade auf dem Sprung nach Hamburg, da sie dort nach abgeschlossener Lehre (wegen der Sicherheit) nun Tanz und Gesang studieren wollte, um eine »der Anderen« zu werden.

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