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Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kemmler
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endlich mal was zu tun. Ein Kumpel, der zehn Jahre zuvor Läden beklaut hatte, um sich das Kiffen zu finanzieren, hielt mir mittlerweile Vorträge über die Sicherheit von Arbeitsplätzen und Altersvorsorge. Irgendetwas passiert mit Menschen zwischen fünfundzwanzig und Anfang dreißig, sie werfen ihre Jugend in die Wäsche oder hängen sie an einen Kleiderhaken wie »Stock oder Hut« und holen sie nur noch an runden Geburtstagen oder Firmenfeiern hervor. Doch was immer bei diesen Menschen passierte, es war an mir vorübergegangen, und ich wusste tief im Inneren, es würde nie mehr vorbeischauen. Ich wusste selbst nicht, was ich ihnen zu meiner Situation erzählen sollte. Ich habe wohl irgendwas von Freiheit geschwafelt.
    Als ich in Australien mit einem Dollar in der Tasche dastand, hatte ich nichts zu verlieren. Meine Platten waren zu Hause im Schrank, und sonst besaß ich nicht viel. Seitdem aber hatte ich doch einige Dinge erworben. Und wenn man etwas verliert, nachdem man es mal hatte, ist es wesentlich unangenehmer.
    Ich war zwei Jahre zuvor, im Anschluss an die Hawaiireise, noch mit dem Bruder meines besten Freundes in Las Vegas gewesen. Dort hatten wir eine Nacht im Casino durchgezockt. Wir hatten jeder hundert Dollar in die Hand genommen, sieben Stunden damit gespielt, und waren dann um sechs Uhr morgens abgebrannt auf unser Zimmer geschlichen. Dort haben wir innerlich völlig leer auf die ebensolche Wüste geblickt. Wir waren beide nur um diese hundert Dollar ärmer, von denen wir uns ja von vornherein verabschiedet hatten. Aber da wir bis fünf Uhr morgens jeder fast zweihundertfünfzig Dollar gewonnen hatten, die zwei Stunden später allesamt wieder weg waren, hatten wir am Ende das Gefühl, ein Vermögen samt nicht vorhandenem Haus und Hof verspielt zu haben. Und das, obwohl wir uns fünf Stunden lang mit Gin Tonics an den Spielautomaten Mut gemacht hatten, bevor wir siegesgewiss und in vollem Bewusstsein unserer James-Bondartigen Verve zum Pokertisch gegangen waren. Danach dauerte es wie gesagt nicht mehr sehr lange. Das Gefühl des Verlusts währte noch drei Tage lang.
    Das auf dem Flohmarkt verdiente Geld habe ich zu großen Teilen in den gemeinsamen Haushalt investiert. Aber ich wollte mehr. Badminton! Deshalb ging ich ans Tafelsilber. Ich inserierte ein paar Schätze, Platten, von denen ich wusste, dass sie wertvoll sind. Amon Düül auf Ohr Records gepresst im Neuzustand beispielsweise, und ein Bootleg von einem Eurythmics-Auftritt mit einer großartigen Version von »The Miracle of Love«, aufgenommen bei einem Konzert an der Berliner Mauer, über das in der Zeitung berichtet wurde, weil es auf der anderen Seite der damals noch nicht gefallenen Mauer Krawalle gab, worauf Annie Lennox sogar in der Ansage des Songs einging. Und eine Kiss-Japanpressung mit meinem Lieblingslied aus Pensacola: »World without Heroes«. In der Tat hatten Helden gerade Urlaub.
    Es klingelte. Ich zuckte zusammen. Normalerweise ging ich gar nicht mehr an die Tür, aus Angst vor Gläubigern oder Einschreiben, aber diesmal wusste ich, es ist der Plattenkäufer. Vor der Tür stand ein Unsympath sondergleichen, der nicht grüßte, sondern sich sofort lieblos, kalt und verächtlich durch meine Platten wühlte wie ein besoffener Arsch, der Frauen herrisch angrabscht. Anstatt ihm aber eine Ohrfeige mitzugeben und ihn heimzuschicken, verkaufte ich ihm vier Platten unter Preis, bevor ich ihn so verabschiedete, wie er mich begrüßt hatte. Mit diesem Geld fuhr ich eine Stunde später zum Badminton. Als ich dort den Court zahlte, fühlte es sich an, als wäre es Geld, das ich von einem besoffenen Grabscher fürs Anfassenlassen bekommen hätte, um damit selber woanders kurz grabschen zu dürfen: unendlich schmutzig.
    Und als meine Freundin heimkam, wurde es noch ein wenig ungemütlicher. Nachdem ich ihr erzählt hatte, wie furchtbar es war, so tief zu sinken, nur um Badminton zu spielen, und auf ihr Mitgefühl wartete, pfiff sie mich an, warum ich das Geld nicht lieber ihr gegeben hätte, denn das wäre ehrlicher gewesen. Anstatt darüber zu jammern, was ich für meine Freizeit bezahlen musste. Es war die eindringlichste Lektion meines Lebens in Sachen Verantwortung. Der Preis für Freiheit und der Preis für Freizeit ist manchmal hoch. Ich bin mir zwar immer noch sicher, es war wichtig, an diesem Tag Badminton gespielt zu haben, weil sonst der Schimmel endgültig gesiegt hätte und ich der totalen Verwesung anheimgefallen wäre, aber

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