Und was wirst du, wenn ich gross bin
verlassen, startete ich auch bald eine flächendeckende Offensive. Ein bisschen Wanja war wohl doch im Lammfell gewesen.
Ich hatte einen Computer, also brachte ich mir selbst ein rudimentäres Programm zur Erstellung von Websites bei und offerierte Webdesign. Ich erfand einen revolutionären Turnschuh, meldete ihn beim Patentamt an, präsentierte ihn bei Adidas und verhandelte mit Nike. Ich entwarf ein Logo für das Unternehmen, dem ich meinen ersten Job als EDVler verdankte, und besitze heute noch ein Handtuch mit diesem Logo. Ich bewarb mich bei zehn Unternehmen für Festanstellungen im Marketing und als Texter, woraus fünf Vorstellungsgespräche resultierten (was nur daran lag, dass ich ein Händchen dafür hatte, einen krummen Lebenslauf als Linie zu verkaufen, seit ich meinen Eltern meine Entscheidungen zum Zweck weiterer Finanzierung vermittelt hatte). Aus diesen fünf Bewerbungsgesprächen resultierten einige Aufträge als freier Texter ohne Anstellung, was mir sehr recht war. Ein Angebot hing noch in der Schwebe, eine Marketingstelle für ein Unternehmen im Zusammenhang mit Computerspielen in Düsseldorf. Die Wartezeit darauf beeinflusste meine Zukunft entscheidend, wie sich zeigen sollte, und zwar sogar tiefgreifender, als nie nach Düsseldorf zu ziehen.
Die Wartezeit auf die letztendlich folgende Absage dauerte nämlich fünf Wochen. Und die nutzte ich, um ein Comedyprogramm zu schreiben, das nie aufgeführt wurde. Inspiriert dazu hatte mich ein Treffen mit einem alten Bekannten und zukünftigen Nachbarn und Freund, den ich über seine damalige Freundin und spätere Frau kannte. Sie war Sängerin, ich hatte sie zehn Jahre zuvor als Kollegin Penthesileas kennengelernt. Ihr Mann, wollen wir ihn Aristoteles nennen, wegen seiner Fähigkeit, in seinen Bereichen Grundsätzliches in kanonischer Form niederzulegen, hatte gerade seinen großen Durchbruch als Stand-Up-Comedian, und war darüber hinaus derjenige, der diesen Begriff hierzulande geläufig machte.
Inspiriert davon, was bei ihm alles passierte, schrieb ich ins Blaue los, hatte jedoch meinen Auftritt bei Maisie’s in Stirling noch warnend im Hinterkopf. Als ich fertig war, überließ ich es Aristoteles zur Beurteilung und Rezension. Er gab mir wertvollste Tipps, wie immer seither, und da er selbst gerade an die Grenzen des beruflich Machbaren stieß, engagierte er mich, um gemeinsam mit mir seine neue Website inhaltlich zu gestalten. Das war eine Verbindung, die mein Leben von Grund auf veränderte und die seit nunmehr zehn Jahren besteht, was in meinem Fall offensichtlich eine lange Zeit ist.
Als die Absage aus Düsseldorf kam, konnte ich damit leben.
Denn ich fühlte mich als Entrepreneur, was nichts anderes als Unternehmer ist, aber einfach abenteuerlicher klingt. Wie der Unterschied zwischen »unabhängiger Unternehmer zur See« und »Freibeuter«. Da will man sprachlich auch genau sein.
Es ging bergauf. Doch gab es auch andere Umstände, die zu meistern waren. Es hatte sie schon vorher gegeben, in verschiedener Form. Das sind Aufgaben, die nichts mit Beruf zu tun haben, aber trotzdem vorübergehend zu einer Art Beruf werden können, weil auch sie Pflichtbewusstsein und äußeren Zwängen entspringen. Diese Dinge haben nichts mit Finanzen zu tun, übersteigen alle materiellen Erwägungen, und man kann sie niemals wirklich meistern.
Es sind Dinge, über die man normalerweise nie spricht, nur wenn man irgendwann anfängt, mit anderen darüber zu reden, ist es, als würde man eine Tür aufmachen, und plötzlich sind da ganze Räume gefüllt mit Erlebnissen. Diese Räume werden aber erst dann geöffnet, wenn einer sich vorwagt. Das Eingeständnis des Erlebten ist sozusagen der Schlüssel. Normalerweise sind die Türen gut verriegelt, aus Gründen, die von Verdrängung bis hin zur Schonung der anderen reichen. Zu diesen Dingen gehören Vergewaltigung, Abtreibung, Krebs und Tod. So war ich einmal mit einer Frau zusammen, die vergewaltigt worden war, ich war einmal als dann nichtwerdender Vater an einer Abtreibung beteiligt, ich war mit einer Frau zusammen, die Krebs hatte, und ich habe den Vater einer Freundin bis zum Tod mitbegleitet.
Man verbringt Jahre damit, zu lernen, wie man erfolgreich wird, wie man Fliesen gerade legt oder welche Ereignisse zur Französischen Revolution führten, aber wenn der Bestatter seinen Katalog auspackt und man die aktuelle Sarg- und Leichenhemdenkollektion durchgehen muss, ist man so hilflos wie ein Erstklässler
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