Und was wirst du, wenn ich gross bin
vor einer Differenzialgleichung.
Diesem Moment waren einige Monate vorausgegangen, von der Diagnose eines Hirntumors über Pflege zu Hause, Heimaufenthalt und Hospizaufenthalten bis zum Ende.
Als ich mit der Frau zusammen war, die Krebs hatte, hatte ich einige dieser Situationen schon erlebt. Die onkologische Station im Krankenhaus. Die Folgen von Chemotherapie und Bestrahlung.
Das Seltsamste daran war gewesen, es war alles wie sonst auch, nur grundsätzlicher. Man saß sich beim Kaffee gegenüber, wusste aber, dass sie eine Perücke trug. Man lachte über die Absurdität, dann blieb einem das Lachen im Hals stecken, und dann lachte man weiter. Entgegen dem, was man sich so vorstellt, sind Krebsstationen Orte, an denen viel gelacht wird, weil die, die dort sind, viel Bedarf an Lachen haben. Das Ernste kommt meist von selbst und von außen, von den Besuchern, und ich glaube, viele würden staunen, wie viel im Krankenhaus aus Rücksicht der Erkrankten ihren Angehörigen gegenüber geschieht. Wenn die Krebspatienten wieder unter sich sind, versuchen meist alle, sich die Absurdität der Situation vor Augen zu führen und darüber zu lächeln. Und das trotz der Tatsache, dass sich Krankenhäuser so fürchterlich darum bemühen, der - was die Inneneinrichtung betrifft - mit Abstand humorloseste und lebensfeindlichste Ort der Welt zu sein. Wenn Friedhöfe annähernd die Ausstrahlung von Krankenhäusern hätten, würde niemand jemals dort hingehen, geschweige denn sich dort begraben lassen.
Ich hatte viele sehr fröhliche und viele sehr traurige Situationen mit meiner früheren kranken Freundin. Ich hätte ihr die meisten ihrer launigen Bemerkungen, beispielsweise im Umgang mit der Tatsache, dass während der Auswirkungen einer Chemotherapie Sex schwierig wird, nie zugetraut. Wahrscheinlich sind wir alle größer, als wir vermuten. In ihrem Falle hatte ich auch das Glück, nicht nur die Krankheit, sondern auch die Genesung mitzuerleben. Sie wurde wieder gesund.
Im Gegensatz zum Vater meiner Freundin, sein Hirntumor war irreversibel. Aber so komisch es ist, wenn sich jemand die Socken anzündet, weil er kalte Füße hat, ist es auch sehr bitter. So wie es (im ganz Kleinen und vergleichsweise Unwichtigen) nicht nur komisch gewesen war, Jobs zu verlieren und Träume aufzugeben. Zumindest in dem Moment, als es passierte. Es sollte auch jedem selbst überlassen bleiben, ob und was man im Nachhinein komisch findet, ich habe mich, was mein Leben betrifft, dazu entschieden, es sehr komisch zu finden, weil es mir dabei hilft, mich damit anzufreunden.
Beim Leben anderer bin ich zwiegespalten.
Ich weiß nicht, ob ich durch die Krankheit anderer wirklich etwas gelernt habe, aber es brachte neue Gewissheiten. Als mich der schon sehr kranke Vater der Freundin, der mich zuvor immer aufgezogen und nie ganz ernst genommen hatte, einmal bei sich zu Hause herzlich begrüßte und mit den Worten »Wenn’s der Chef sagt« wieder in sein Krankenbett kletterte, nachdem er einen Zivildienstpfleger eine Nacht lang am Nasenring ums Karree geführt hatte, wusste ich, dass ich irgendwann, ohne es zu merken, zu einem erwachsenen Mann geworden war. Auch wenn alle meine Lebensumstände das Gegenteil behaupteten.
Seither gibt es einen Teil in mir, der bleibt, wie er ist, sogar wenn er sich verändert. Ein Stückchen »Ich«, das sich seiner gewiss ist. Das hat wenig mit Stärke zu tun, auch wenn es so klingt. Damals wollte ich jeden Tag nur, dass alles wieder gut wird. Gesund und munter.
Und selbst wenn es, wie im Falle der gesundeten Freundin, so weit ist, wenn »alles wieder gut« ist, ist es dennoch nicht gleich vorbei. Nur weil es gut ausgegangen ist, kann man leider kein Häkchen dahinter machen, wie bei einem Langstreckenlauf. Hauptsache Ziel erreicht. Es dauert, bis man realisiert hat, es ging gut, oder bis man realisiert hat, es ging nicht gut, aber es ist vorbei. Es stirbt immer irgendetwas, im besten Fall sind es nur ein paar falsche Vorstellungen.
Außer der Feststellung, dass man auch als nicht gesundheitlich Betroffener Rücksicht auf sich selbst nehmen sollte und dass »aufopfern« die sinnloseste Tätigkeit ist, die man offerieren kann, weil zwei erschöpfte Menschen nicht besser sind als einer, habe ich nichts gefunden, was man »lernen« kann. Man kann nur da sein und begleiten, je ehrlicher, desto besser. Ein wirklich Kranker erkennt Durchhaltegeschwätz oder verbale Blümchengirlanden auf zehn Meter gegen den Wind und ist dann
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