Und weg bist du (German Edition)
schimmernden Klinge in die Dunkelheit.
Das Messer hätte mir Angst einjagen müssen, doch ich betrachtete den Jungen mit sachlicher Distanz. Verglichen mit dem Wesen im Keller kam er mir harmlos vor. Mein Oberarm pochte vor Schmerzen und meine Kehle brannte, doch ich zwang mich, leise zu atmen. Durch das Hämmern meines Herzschlags hindurch hörte ich ein leises Grummeln und für einen kurzen Moment fürchtete ich, das Biest könnte die Treppe heraufkommen. Ein Blitz erhellte die Fenster und mir wurde bewusst, dass es nur Donner gewesen war. Ein weiteres Gewitter hatte Watertown erreicht.
Der Wind rüttelte an den Dachrinnen, während sich drei weitere Kids zu ihrem Freund gesellten. Ich hörte ein kehliges Fluchen und hielt es für das Beste, langsam die Treppe in den ersten Stock hinaufzuschleichen. Die Jahre schmolzen dahin und plötzlich wusste ich wieder den Code, den Noah mir und Jack beigebracht hatten, um die knarrenden Dielen zu meiden. Leise begann ich für mich zu zählen. Vier, fünf, sechs … ganz nach links rüber und weiter. Siebzehn, achtzehn, mit einem großen Schritt zurück nach rechts. Um die Ecke schauen. Wenn die Luft rein ist, bis zum Schluss zwei Stufen auf einmal nehmen.
So weit, so gut. Dann hörte ich etwas aus meiner Vergangenheit, das die Nadel meines Angst-Barometers nach oben schnellen ließ.
»Jocey …«, rief eine leise Stimme, während der Junge hinter mir die Treppe heraufkam. »Jocey, wo bist du?«
fünf
FLUCHT
In der oberen Etage roch es noch stärker als unten nach kaltem Rauch. Der Dachstuhl war teilweise eingebrochen, beide Wände im Flur waren angesengt und in einer klaffte sogar ein großes Loch, das sich bis in den Fußboden zog. Als ich daran vorbeihuschte, blies mir Wind entgegen.
Ich schlüpfte in den Jungen-Schlafraum, der abgesehen von einem Teppich, einem Hocker und einigen Kartons leer war. Als ich leise die Tür schloss, sah ich Noah und Jack vor meinem geistigen Auge, wie sie am Fenster standen und mich heranwinkten. Ich eilte dorthin und blickte zurück in den Raum, wo einst die Stockbetten gestanden hatten.
Der süße, damals siebenjährige Dixon setzte sich auf. Seine hellen Locken waren vom Schlafen platt gedrückt. Er hatte sich die Decke bis unters Kinn gezogen und wirkte verängstigt.
Auf der anderen Seite des Raums hockte ein zweiter Junge inmitten eines Bergs von Decken. Er hatte das fahle Gesicht eines Straßenkindes, das gelernt hat sich zum Selbstschutz vorsichtshalber in eine Ecke zu verdrücken. Sein kalter Blick verriet eine kranke Seele und eine schwelende Bereitschaft zu Grausamkeiten. Sein richtiger Name war Edgar, aber wir nannten ihn Eckzahn.
Bis zu diesem Moment hatte ich ihn vollkommen verdrängt. Während all meiner Therapiesitzungen mit dem guten alten Dr. Candlar, in denen viele der anderen Bewohner von Seale House in allen Einzelheiten besprochen worden waren, hatte ich nicht ein einziges Mal an Edgar gedacht. Dabei hatte er mich fast umgebracht – er war der Grund gewesen, warum ich abgehauen war. Dennoch erinnerte ich mich erst jetzt wieder an ihn. Gab es noch weitere Puzzleteile aus meiner Vergangenheit, die mir verloren gegangen waren?
Ich schob die Gedanken an damals beiseite und hob die schmalen Jalousien vor den Fenstern an. Blitze leuchteten auf und Donner ließ die Lamellen vibrieren. Ich war gerade dabei, den alten Metallriegel mit den Fingern umzulegen, als ich innehielt, weil ich gedämpfte Stimmen im Flur hörte. Noch immer war ich nicht sicher, ob der Junge mit dem Messer wirklich meinen Namen gesagt hatte. Wie konnte er wissen, wer ich war? Noch unheimlicher aber war, dass er mich zu diesem schaurigen Versteckspiel zwang.
Ich war erst seit zwanzig Minuten wieder zurück in Seale House und schon wurde ich von einem durchgeknallten Kid mit einem Messer gejagt, hatte einen Zusammenstoß mit einem Phantom im Keller, und ein Geist meiner Kindheit rief mir ins Gedächtnis zurück, was ich offenbar unbedingt hatte vergessen wollen. Das alles war zu viel für mich und ich bekam das Gefühl, in eine Art Zeitmaschine gefallen zu sein. Fast musste ich lachen, bis ich feststellte, dass sich das Fenster nicht öffnen ließ.
Draußen im Flur konnte ich hören, wie Türen aufgerissen wurden, und Stimmen drangen mal lauter, dann wieder leiser an mein Ohr wie peitschender Wind. Ich drückte mit meinem gesamten Gewicht gegen das Fenster, es knackte, aber hochschieben ließ es sich noch immer nicht. Beim nächsten Blitz
Weitere Kostenlose Bücher