Und weg bist du (German Edition)
war stets derjenige von uns beiden gewesen, der mit Melody umzugehen wusste.
Jack war der ruhende Pol, dem es gelang, die dunklen Ängste unserer Mutter zu vertreiben. Ich war lediglich der lustige Hofnarr, der alles gab, um Melody zum Lachen zu bringen. Wenn sie lachte und wenn sie zufrieden war, ging es uns allen besser.
Der alte Pick-up bebte, weil wir so schnell fuhren und Melody so ruckartig in die Kurven preschte. Durch die gesprungene Windschutzscheibe starrte ich auf den roten Rost der Motorhaube, der immer näher zu kommen schien. Auf meinem Platz zwischen dem schlafenden Jack und der zeternden Melody lief mir plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken, denn schlagartig wurde mir klar, dass das Rot auf der Haube nicht Rost, sondern Blut war. Das verbeulte Blech war gezeichnet von Blutspritzern, die auf uns zukamen wie krabbelnde Finger. Durch den Fahrtwind lösten sich einzelne Tropfen und flogen gegen die Windschutzscheibe. Mit der Zeit wurden es immer mehr, bis man den Eindruck hatte, es würde schmutziger Regen vom Himmel fallen.
Melody dachte nicht daran, das Tempo bei dieser Verfolgungsjagd ohne Verfolger zu drosseln. Vielmehr kreischte sie entschlossener denn je, dass wir nicht aufgeben dürften. Als sie die quietschenden Scheibenwischer anstellte, verschmierten sie das Blut und bald fuhren wir im Blindflug. Der Pick-up begann zu zittern, als würde er einen Herzinfarkt erleiden, und die Reifen ächzten auf dem Weg zum Kamm hinauf. Wir rasten über die Kuppe und darüber hinaus in die schwarze Nacht. Ich öffnete den Mund, um zu schreien, doch das Grauen war so unaussprechlich, dass kein Ton herauskam.
Der Traum riss mich aus dem Schlaf. Reglos lag ich da, während mir das Herz bis zum Hals schlug, wie immer nach diesem Albtraum. Erst nachdem ich einige Male bewusst tief durchgeatmet hatte, beruhigte sich mein Puls langsam. Es war Morgen. Tageslicht drang durch die cremefarbenen Vorhänge herein. Der Himmel hatte sich aufgeklart und das fröhliche Lied der Lerchen in den Bäumen vor dem Haus stand im scharfen Kontrast zu meinem düsteren Traum.
Ich kroch aus dem Bett und machte mich auf den Weg ins Badezimmer. Mir tat alles weh. Vor Schmerzen stöhnte ich laut auf und schluckte erst einmal eine weitere Tablette. Unter der Dusche wusch ich den Albtraum-Schweiß ab. Wieder musste ich an die Schießerei am Abend zuvor denken, die mich noch mehr belastete als der Albtraum. Und einmal mehr fragte ich mich, wer die finstere Gestalt am Ende der Gasse gewesen war. Wieso war sie gerade in dem Moment zur Stelle, als Georgie mit dem Messer auf mich losging, und warum hatte sie ihn getötet?
Die Antwort blieb offen. Ich seufzte frustriert und drehte das Wasser ab. Während ich mich abtrocknete, betrachtete ich mein Gesicht. Die Wunde sah nicht mehr ganz so grässlich aus wie am Abend zuvor, aber noch lange nicht gut. Dann untersuchte ich die anderen Schrammen und Verletzungen sowie den Abdruck auf dem Arm. Auch nach einer Nacht Schlaf war eindeutig, dass er von einem Biss herrührte, und ich versuchte mich daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal gegen Tetanus geimpft worden war. Es musste ungefähr vier oder fünf Jahre her sein.
Ich beschloss mir später darüber Gedanken zu machen und zog das graugrüne Shirt und die zerknitterten Jeans vom Vortag wieder an. Mehr denn je vermisste ich meinen Koffer und mein Auto. Monatelang hatte ich gearbeitet, um genug Geld für den kleinen, zerbeulten Honda Civic zusammenzubekommen, und nun fragte ich mich, ob ich ihn je wiedersehen würde. Und was würden meine Pflegeeltern sagen, wenn sie davon erfuhren? Ich hatte nicht vorgehabt ihnen überhaupt von diesem Trip in den Norden zu erzählen, doch jetzt blieb mir wohl nichts anderes übrig. Sie würden sauer sein, dass ich alleine hierhergekommen war, und enttäuscht, weil ich sie angelogen und behauptet hatte, ich würde mit meinen Freunden zelten gehen. Marilyn und Brent zu enttäuschen war schlimmer als Stubenarrest.
Ich verließ das Badezimmer und folgte dem Geruch nach Essen und Noahs Stimme. Der Duft war köstlich, die Stimme jedoch klang verärgert. Er war in der Küche. Offenbar kochte er noch immer gern, was ich irgendwie beruhigend fand. Schon früher hatte Noah viel Zeit mit Kochen verbracht. Manchmal übernahm er sogar zwei Schichten hintereinander und wir waren stets froh darüber gewesen, wenn er Kochdienst hatte. Als ich ihn nun am Herd sah, war mir, als stünde da wieder der alte Noah, zumindest
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