Und weg bist du (German Edition)
Himmel. Der Wind blies mir kräftig ins Gesicht und ich war dankbar für die leichte Fleecejacke, die Noah mir geliehen hatte. Er trug das gleiche Modell, nur in einem dunkleren Farbton. Wir sahen aus wie eins dieser peinlichen, verliebten Pärchen, das seine Zusammengehörigkeit dadurch zur Schau stellte, dass es sich gleich kleidete.
Während wir auf die breite Veranda zugingen, waren meine Erinnerungen an Seale House lebendiger als je zuvor. Meine Vergangenheit in Watertown war geprägt von den Pflegekindern, mit denen ich dort zusammengelebt hatte, wie Georgie zum Beispiel. Doch abgesehen von Jack und Noah hatten sich drei von ihnen besonders in mein Gedächtnis eingebrannt: eins, das mir Angst machte, eins, das mir große Angst machte, und eins, um das ich große Angst hatte.
Im ersten Fall handelte es sich um die Brutale Beth, das älteste der Pflegekinder von Seale House. Unzählige Male hatte ich versucht mit ihr zu reden, was jedes Mal auf einen Monolog herausgelaufen war. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie mir überhaupt zuhörte. Sie war wie ein brodelnder Teekessel kurz vor dem Pfeifen und hatte den inneren Drang, anderen wehzutun. Wir alle waren erleichtert, als sie sich irgendwann darauf verlagerte, sich selbst anstatt uns zu verletzen.
Eckzahn, derjenige, vor dem ich große Angst gehabt hatte, war bis gestern in meinem Gedächtnis verschüttet gewesen. Wenn ich jetzt darüber nachdachte, gab es viele Gründe, warum ich ihn hatte vergessen wollen.
Derjenige, um den ich große Angst gehabt hatte, war der siebenjährige Dixon gewesen, ein bezaubernder, aber traumatisierter kleiner Junge, der mir überallhin folgte wie ein herrenloser Hund. Ich wusste, dass einer von diesen dreien tot war. Die anderen beiden waren an dem grausamen Winterabend, an dem ich fortgerannt war, aus meinem Leben verschwunden.
Noah und ich stiegen die Stufen hinauf und gingen über die Veranda auf die Tür zu, die nach der gestrigen Verfolgungsjagd noch ein Stück offen stand. Noah trat hinein und ich folgte ihm. Dabei sah ich mich um und horchte auf Anzeichen der Kakerlaken-Kids. Als wir an der Asche des erloschenen Feuers vorbeikamen, blieb Noah kurz stehen und starrte darauf. Bis wir die Kellertür erreichten, war mein Mund staubtrocken.
»Riecht ziemlich heftig hier drinnen«, sagte er und meinte den Rauch.
»Ich weiß. Soll ich den Schraubenzieher nehmen, da du schon die schwere Taschenlampe trägst?«
»Nein, du hältst ihn bestimmt wie eine Waffe und ich will nicht, dass du ihn mir in den Hintern rammst, weil du plötzlich Panik bekommst.«
Ich verdrehte die Augen und murmelte eine gemeine Bemerkung, doch insgeheim wusste ich, dass seine Reaktion nach der Erfahrung, die er mit mir gemacht hatte, durchaus berechtigt war.
»Da unten soll es sein, richtig?«
»Ja.«
Er öffnete die Tür und knipste die Taschenlampe an, die die Kellertreppe viel besser ausleuchtete als mein kleines Schlüsselbundlicht.
»Noah«, flüsterte ich, während ich hinter ihm vorsichtig die Stufen hinabstieg, »vielleicht hätte ich es dir eher sagen sollen, aber dort unten ist etwas. Es hat mich in den Arm gebissen.«
»Danke für die Vorwarnung.«
»Das meine ich ernst. Wirklich!«
Wir waren unten angekommen. »Da du so ein Schisser bist, schauen wir uns am besten erst einmal um, Jocey.«
»Nein, geht schon …«
Ohne mir Beachtung zu schenken, schritt Noah durch den Keller und leuchtete mit der Taschenlampe jeden Winkel aus. Sogar den künstlichen Weihnachtsbaum, in dem noch einige Kugeln und eine zerbrochene Zuckerstange hingen, zeigte er mir. Als Nächstes begab er sich zu dem Lehmfriedhof, der Wand, von der Dixon überzeugt gewesen war, dass darin die Leichen von ungehorsamen Kindern lagerten. Kurze Zeit später kehrte er mit gelangweiltem Gesichtsausdruck zurück.
»Hier unten ist nichts Gefährliches, es sei denn, die giftigen Pilze, die dort hinten wachsen, machen dir Angst.«
»Gut.« Ich versuchte ruhig zu wirken, wünschte aber, ich hätte ihm nie von dem Keller-Ungeheuer erzählt. Schnell wandte ich mich Jacks Versteck unter der Treppe zu. »Dort drunter.«
Ich kroch unter die Stufen und bat Noah um den Schraubenzieher, den er mir dieses Mal gab. Ich zeigte auf den Kasten und Noah leuchtete ihn an. Dabei wurde etwas sichtbar, was mit meinem kleinen Licht nicht zu erkennen gewesen war: frische Spuren eines Hammers. Neben den alten Spuren auf der Vorderseite, die von Jack und mir stammten, als wir das Versteck
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