Und weg bist du (German Edition)
mir das nicht vorher gesagt hast. Sonst hättest du mich ordentlich unter Druck gesetzt.«
»Nein, es war wunderbar. Küss mich noch mal.«
vierundzwanzig
MONOPOLY
Auf Dauer wurden die dünnen Patchworkdecken unbequem. Ich schlief unruhig. Gegen zwei Uhr fuhr ich aus einem Traum hoch. Darin trauerte Melody einmal mehr ihrer verlorenen Liebe Calvert nach und ich schlug ihr ins Gesicht. Daraufhin drehte sie sich um und rannte davon in die Dunkelheit. Ich blieb zurück neben der alten Frau mit dem Silberkreuz, die kurz meine Stirn und mein Herz berührte, bevor auch sie verschwand. Ich war zwar aufgewacht, kam aber vor Erschöpfung kaum zu Bewusstsein, so dass ich mich schließlich auf die Seite drehte und wieder in einen tiefen Schlaf fiel.
Als ich das nächste Mal träumte, hatte ich einen Traum im Traum. Wieder einmal befand ich mich in Seale House. Ich stand im Mädchenschlafzimmer und starrte gebannt auf die Wände. Als zwölfjährige Jocey war ich gerade aus dem Tiefschlaf erwacht. Zunächst hatte ich das Gefühl, noch zu träumen, weil die Wand nicht mehr aus Gips bestand, sondern zu Fleisch geworden war – zum Fleisch einer kriechenden Riesenschlange. Wie hypnotisiert streckte ich den Arm aus und spürte das Leben an den Fingerspitzen pulsieren. Das Pochen war jedoch so träge, dass es der Herzschlag eines Blauwals hätte sein können. Der zwölfjährigen Jocey stockte der Atem, während die Wand wucherte wie eine bösartige Geschwulst. Vor Angst schreiend stolperte ich davon.
Mit einem Ruck wurde ich wach und merkte, dass ich mich in einem anderen Raum des kleinen Reihenhauses befand. Die Hand hielt ich an die Wand gedrückt, die unter meinen Fingern pulsierte. Orientierungslos wich ich zurück. Das Herz schlug mir bis zum Hals und ich zitterte vor Angst. Dann kniff ich die Augen zusammen und erinnerte mich daran, was Dr. Candlar mir während unserer Therapiesitzungen erklärt hatte: Realistische Albträume waren offenbar meine Art, Ängste und Leid der Vergangenheit zu verarbeiten. Nachdem ich die Augen geöffnet hatte und die Hand abermals ausstreckte, war dort nichts als eine normale Wand.
Im nächsten Moment hörte ich Noah unten wütend fluchen und eilte die Treppe hinab. Er saß im fahlen Morgenlicht auf seiner Decke und atmete schwer. Seine Augen funkelten so zornig wie damals in der letzten Nacht in Seale House, als ich fortgerannt war.
»Noah? Alles in Ordnung?«
Er schüttelte den Kopf und rieb sich mit den Fäusten die Augen, als müsste er erst richtig aufwachen. Hatten wir beide gleichzeitig schlecht geträumt? In den letzten beiden Tagen hatten wir jedenfalls genug erlebt, um Stoff für zwei Albträume zu haben. Als er die Hände sinken ließ, wirkte er wieder mehr wie er selbst, allerdings blickte er noch immer finster drein. Ich fragte ihn erneut, was los sei.
»Ich habe geträumt, dass Gerard die Bombe gelegt hat und dabei ununterbrochen grinste. Am liebsten hätte ich ihn umgebracht«, fluchte er. Noah konnte sarkastisch oder sauer sein, doch so hasserfüllt wie jetzt hatte ich ihn selten erlebt.
»Das kann man dir nicht verdenken.« Ich ließ mich dicht neben ihm nieder.
Er griff nach dem Saum seines schweißnassen Hemdes und zog es sich über den Kopf. Kurz rieb er sich damit den Oberkörper ab und warf es dann in die Ecke. Im zunehmenden Morgenlicht konnte ich deutlich seine Muskeln erkennen und einmal mehr wurde mir bewusst, wie sehr er sich in den fünf Jahren verändert hatte. Von dem ungelenken Jungen war nichts mehr übrig. Und wenn ich mich damals schon zu ihm hingezogen gefühlt hatte, war es inzwischen noch schwieriger geworden, ihm zu widerstehen.
Noah streckte sich im Sitzen. »Es ist einfach so, endlich war ich selbstständig und konnte mir einige Dinge leisten, die ich schon immer haben wollte. Auch wenn es nicht nach viel aussah. Ich hätte mich versichern sollen, aber wer denkt an so etwas, bevor es zu spät ist? Jetzt ist alles weg, einschließlich meines Computers und der ganzen anderen technischen Geräte, die ich gekauft hatte.«
»Das ist furchtbar.«
»Ich weiß, dass es nichts wirklich Wertvolles war, aber es war alles, was ich besaß. Ich wollte mir ein Zuhause aufbauen, das anders war als Seale House.« Er sah mich lange an. »Egal. Wir beide sind in Sicherheit. Und zumindest habe ich noch mein Laptop.«
»Es ist nicht egal, Noah. Natürlich nicht.« Ich rückte näher an ihn heran und berührte sein Gesicht, so wie er meins in der Nacht zuvor
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