...und wenn Du auch die Wahrheit sprichst
Seiten Vanessas lag. Wenn es nach Michaela gegangen wäre, wäre sie gern öfter mit ihrer Geliebten intim beisammen gewesen.
Der Gedanke an Vanessa ließ Michaela ein weiteres Problem erkennen. Vanessa würde fragen, wo sie die Nacht verbracht hatte. Was sollte sie ihr sagen? Im Bett mit Tanja? Nein, nein. Im Bett neben Tanja, wenn überhaupt.
Michaela seufzte. Nein, das war keine gute Idee. Sie würde sich etwas Unverfängliches ausdenken. Sie stellte sich vor, was sie selbst denken würde, wenn Vanessa mit so einer Geschichte kam. Bei aller Toleranz, so weit zog selbst Vanessa den Rahmen der Freiheit nicht.
Michaelas Sorge erwies sich als unbegründet. Als sie nach Hause kam und vorsichtig die Tür zum Schlafzimmer öffnete, um zu sehen, ob Vanessa noch schlief, sah sie nur ein leeres Bett. Ein leeres, unberührtes Bett. Auch Vanessa hatte die Nacht nicht zu Hause verbracht. Auf welcher Party war sie gewesen? Normalerweise kam Vanessa in den frühen Morgenstunden nach Hause.
Michaelas Verwunderung wich der Erleichterung, dass sie so Vanessa wenigstens nicht Rede und Antwort stehen musste, dass sie selbst nicht nach Hause gekommen war.
Da Michaela Tanjas Einladung zum Frühstück ausgeschlagen hatte, toastete sie sich schnell eine Scheibe Weißbrot, beschmierte sie mit Butter und Marmelade und biss voller Appetit hinein. Erst danach machte sie Kaffee und wartete mit der zweiten und dritten Scheibe, bis der fertig war.
Gegen Mittag kam Vanessa nach Hause. Offensichtlich in Erwartung eines Vorwurfes erklärte sie: »Tut mir leid. Ich habe einen Filmriss. Was immer du mich nach gestern Abend fragst, ich weiß es nicht.« Sie zuckte mit den Schultern und verschwand im Bad.
Michaela sah ihr konsterniert nach. Na toll. Vanessa war heute Vormittag bei einer ihrer zahlreichen Freundinnen aufgewacht, hatte sich nach Hause geschleppt und wollte nun ihren Rausch ausschlafen. Toller Samstag.
Da hätte sie ja gleich bei Tanja bleiben können. Die freute sich wenigstens über ihre Gesellschaft. Während sie Vanessa wohl eher nebensächlich war.
Ach komm, Michaela, wenn du einen Kater hast, bist du auch nicht sehr umgänglich. Sei nicht ungerecht.
Ja gut, das stimmte schon. Aber im Grunde war es ja nicht der heutige Samstag, der sie störte. Sondern dass der eine Folge dessen war, wie Vanessa den gestrigen Abend verbracht hatte. Mit ihren Freundinnen, wie gehabt.
Gut, dieses eine Mal war Michaela nun auch zufällig verabredet gewesen. Aber wie war es denn sonst? Da saß sie meistens allein zu Hause. Selbst schuld, sagte Vanessa. Michaela könne ja auch mit ihren Freundinnen ausgehen. Das Argument, dass sie mit ihr, Vanessa, ausgehen wollte, nervte die nur. Vanessa hob dann für gewöhnlich die Augenbraue und erläuterte ihre Freiheitstheorie.
Hatten sie sich entfremdet? War es ein Fehler gewesen, Vanessa immer wieder nachzugeben? Aber was hätte sie sonst machen sollen? Sie gehen lassen?
Diese Alternative behagte Michaela ebensowenig wie Vanessas ständige Alleingänge.
Du bist ja wirklich ein Glückspilz, Michaela, dachte sie in einem Anfall von Selbstironie. Auf der einen Seite hast du eine neuextrovertierende reiche Erbin am Hals, die dich am liebsten als Kostprobe vernascht hätte. Auf der anderen Seite spielt deine Geliebte die Mimose, alles ist erlaubt, nur keine Annäherung an sie. Du solltest überdenken, ob es sich nicht lohnen könnte, die Seiten zu wechseln.
Michaela rief sich zur Ordnung. Nein, sie wollte nicht die Seiten wechseln. Sie wollte lediglich, dass alles in Ordnung war. Dass Vanessa sich ein wenig mehr um sie bemühte und dass Tanja sich nicht zu sehr an sie klammerte. Dann wäre die Welt eigentlich wie sie sein sollte, jedenfalls ihre eigene kleine, private Welt. War das denn zuviel verlangt?
Michaelas erster Weg am Montag morgen führte sie in Walter Kanters Büro. »Ihre Tochter ist so ausgehungert nach Aufmerksamkeit und Zuneigung, dass sie sich an mich klammert wie eine Ertrinkende. Warum verbringen Sie nicht einfach etwas mehr Zeit mit ihr? Freizeit! Reden Sie mit ihr. Dann finden Sie auch Zugang«, platzte sie heraus.
Walter Kanter zog die Augenbrauen hoch und machte Michaela damit darauf aufmerksam, dass sie sich nicht sehr respektvoll verhielt. »Wir verbringen durchaus Zeit miteinander und reden«, sagte er dann. »Wir essen jeden Abend zusammen.«
Michaela riss sich zusammen. »Worüber reden Sie?« fragte sie so ruhig wie möglich.
»Über die Firma, über Gott und die
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