Und wenn es die Chance deines Lebens ist
verstummte, gab sich jeder seinen eigenen Betrachtungen hin. Es war ruhig, und in die Stillemischten sich nur das Plätschern des Wassers, die Schreie einiger Vögel und das Knarren des Bootes. Der Schnee, der in immer dickeren Flocken fiel, schien alle anderen Geräusche zu verschlucken. Frédéric war innerlich ganz ruhig, was man als kleines Wunder bezeichnen konnte. Seine Hände schmerzten vor Kälte, und eine Frage brannte ihm auf der Zunge. Doch er wollte diese Stille nicht stören, die seine Unruhe wie eine milde Brise besänftigte. Er empfand auch Freude angesichts des Wohlgefühls, welches das Boot zu umhüllen schien, wagte jedoch kaum, sich ihm ganz und gar hinzugeben aus Angst, es möge sich sogleich wieder verflüchtigen.
Plötzlich durchbrach Jamel den Zauber, indem er sich geräuschvoll die Nase putzte. Jetzt stellte Frédéric dem Kapitän die Frage, die ihn schon die ganze Zeit beschäftigte.
»Kennen Sie Fabrice Nile?«
»Fabrice wer?«, fragte der Kapitän.
»Nile.«
»Ist er zur See gefahren?«
»Nein.«
»Das überrascht mich nicht. Menschen, die nach Flüssen benannt sind, sind normalerweise nicht für das Meer geschaffen.«
Mit einem Griff nach den Rudern beendete er das Gespräch und wendete. Frédéric gab sich mit der Antwort zufrieden. Die drei Männer schwiegen, als das Boot über die Seine glitt und den Anlegesteg passierte. Frédéric fragte sich, wohin sie fuhren. Er schaute auf die Uhr. Es war 10:45 Uhr. Noch über sechs Stunden bis zu dem Gerichtstermin. Kein Grund zur Sorge. Warum war er dann aberso unruhig? Vielleicht, weil es immer stärker schneite. Von Vétheuil bis Paris brauchte man eine Stunde, wenn alles glattging. Die kräftige Stimme des Kapitäns hallte über das eisige Wasser des Flusses.
»Sensible Beobachter entdeckten in den Gemälden von Monet aus jener Zeit Hinweise auf eine tiefe Melancholie. Einige Experten vermuteten, dass der Grund für diesen Weltschmerz hier in Vétheuil zu finden war, und zwar an einem Ort, an dem wir unseren Ausflug beenden.«
Die drei Männer gingen von Bord. Auf Anweisung des Kapitäns ließen Frédéric und Jamel ihre Schwimmwesten im Boot zurück. Sie folgten Bertrand, der einen schmalen, von Unkraut überwucherten Weg hinunterging, der zwischen dem Ufer und den hübschen Häusern reicher Bürger entlangführte. Kurz darauf erreichten sie das verrostete Tor eines Friedhofs.
Der Kapitän ging auf ein Grab zu, das von einem niedrigen Zierzaun und kleinen gepflegten Büschen umgeben war.
»Camille Doncieux ...?«, las Jamel laut vor.
Frédéric wusste, wer das war. Erinnere dich an die große Liebe, die den Winter tief in ihrem Inneren verbarg . Sie standen vor dem Grab von Camille Monet, geborene Doncieux, der ersten Ehefrau des Malers, seiner Gefährtin in den Jahren der großen Entbehrungen. Die Öffentlichkeit kannte sie durch das berühmte Gemälde Das Mohnfeld . Andere hatten ihren verhüllten Körper mit den entrückten Gesichtszügen vor Augen, den ihr liebender Ehemann, der noch die Kraft fand, sie auf dem Totenbett zu malen, auf derLeinwand verewigt hatte. Frédéric hingegen erinnerte sich an die unsterbliche Camille durch das Gemälde Madame Monet mit dem roten Umhang . Der Künstler, der sie vom Fenster aus betrachtete, malte sie in einem Augenblick, als der Schnee, der den Garten erhellte, ihrem Gesicht einen besonders reizvollen Ausdruck verlieh.
Frédéric und Jamel standen inmitten des Schneetreibens in Gedanken versunken vor Camilles Grab.
»Es wird Zeit zurückzufahren. Wo ist der Kapitän?«, fragte Frédéric.
Die beiden Männer schauten sich vergeblich nach ihm um. Schade, jetzt konnten sie sich nicht mehr bei ihm bedanken. Als sie auf den Ausgang zugingen, erblickte Frédéric durch den Schleier des Schneegestöbers die große Silhouette neben der niedrigen Steinmauer. Er näherte sich Bertrand ein Stück, blieb aber in einiger Entfernung von ihm stehen. Der Kapitän verharrte andächtig vor einer kleinen grauen Stele, in die Simon Offenbach 1946-2001 eingraviert war. Jemand hatte versucht, die Schmierereien von dem Grabstein zu entfernen. Schließlich griff der Kapitän in die Einkaufstüte und nahm eine kleine rote Plastikgeranie in einem Keramikübertopf heraus. Rot wie Camilles Umhang an jenem Wintertag vor langer Zeit. Der Kapitän stellte die Blume auf das Grab. Nach wenigen Minuten war sie von weißen Schneeflocken bedeckt. Er sammelte die verstreut herumliegenden Marmorstücke eines kleinen
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