Und wenn es die Chance deines Lebens ist
zerbrochenen Gedenksteins auf. Frédéric konnte die eingravierten Wörter auf den Bruchstücken nicht lesen, aber die behutsamen Gesten des Mannes legten die Vermutung nahe, dass dort eine geliebte Seele ruhte.
Die Rolle des Piraten, des Schauspielers und des Kapitäns hatte er abgelegt. Jetzt stand vor dem Grab tatsächlich Bertrand Ahmed, der einst einen Freund namens Simon gehabt hatte. Oder war es sein Vater oder vielleicht sein Bruder? Frédéric bedauerte sein indiskretes Verhalten und trat zwei Schritte zurück.
»Ein Freund«, sagte der Kapitän. »Ein großer Mann, im Vergleich zu dem ich mir immer so klein vorkomme.« Sprach Bertrand mit Frédéric? Jedenfalls schaute er ihn nicht an. Es schneite jetzt so kräftig, dass der Schnee sogar Bertrands Bart weiß färbte. Das leuchtende Weiß bildete einen starken Kontrast zu der dunklen Haut des Kapitäns und seinen dunkelbraunen strahlenden Augen, die auf die rote Geranie gerichtet waren.
»Camille hat der Krebs hinweggerafft. Simon ist an Intoleranz gestorben. An dieser ganz gewöhnlichen Intoleranz, die nicht weiter auffällt. An Ausgrenzung, die erst recht nicht wahrgenommen wird, denn die Welt besteht schon so lange, dass sie sich in ihrem Alter nicht mehr ändern wird. An Verleumdungen, die einfach so durchgehen, weil sie die Gäste in der Kneipe erheitern. Und diejenigen, denen sie aufstoßen, na ja, die schweigen halt, um nicht aufzufallen.«
Einen Augenblick hörte man auf dem Friedhof nur das leise Rieseln des Schnees.
»Simon war weiß, aber bei ihm war es das Herz, das die falsche Farbe hatte, nicht die Haut.«
»Monsieur Solis, Jamel ...« Mit dem Gruß eines Matrosen verabschiedete Bertrand sich und ging davon. Das Tor des Friedhofs quietschte leise, dann herrschte wieder Stille.
Ihr Reiseführer war verschwunden. Frédéric war allein mit den restlichen Tagen, die er sich bis zu dem Besuch von Monets Garten in Giverny noch gedulden musste. Dieser Ausflug hatte ihn nicht weitergebracht. Ihm blieb nichts anderes übrig, als nach Hause zurückzukehren, ohne Gemälde, ohne Wahrheit, ohne Drama. Ja, selbst ein Drama hätte er begrüßt. Dann hätte er wenigstens der Wut, die in seinem Inneren tobte, freien Lauf lassen können. Doch so still wie dieser Wintertag war auch Frédérics Wut. Er drehte sich zu Jamel um, der Simon Offenbachs Grab betrachtete. Jamel war nur ein Passagier auf dieser Reise. Frédéric hatte die Idee verworfen, dass Jamel irgendetwas wissen könnte. Vielleicht weil Frédéric mit niemandem darüber sprechen konnte, verharrte seine Wut rachsüchtig und stumm in einem versteckten Winkel seiner Seele.
»Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«, fragte er Jamel, nachdem er sich wieder einigermaßen gefasst hatte. »Ich bin schon halb erfroren.«
Jamel nickte. Als Frédéric sich umdrehte und den Mantelkragen hochschlug, um sich vor dem Schnee zu schützen, starrte Jamel noch immer auf das Grab mit der Geranie. Auch wenn Frédéric es nicht zeigen wollte, hatten Bertrands Worte ihn berührt. Doch es schien fast so, als hätte Jamel der Besuch auf dem Friedhof noch stärker mitgenommen als ihn. War es möglich, dass er Simon Offenbach kannte? Frédéric verwarf diesen absurden Gedanken. Jamel hatte eine empfindsame Seele. Das war alles.
20 Minuten später hatten sie in der kleinen Dorfkneipe »Le rendez-vous des sports« an einem Tisch Platz genommen. Auf den Dächern und den Straßen lagen fast vier Zentimeter Schnee, und es schneite unaufhörlich weiter. Frédéric hatte mehrere Taxiunternehmen angerufen, doch es stand kein einziger Wagen zur Verfügung. Er war Jamels Rat gefolgt, bereits jetzt zu Mittag zu essen, während sie warteten, bis es zu schneien aufhörte, und am frühen Nachmittag nach Paris zurückzukehren. Bis zu dem Gerichtstermin war noch jede Menge Zeit. Die beiden Männer bestellten sich das Tagesmenü für zwölf Euro. Frédéric fragte Jamel, ob ihm während des Ausflugs noch irgendetwas eingefallen sei.
»Ich weiß nicht, ob es Ihnen hilft, aber während der Bootstour hat der Kapitän etwas gesagt, was mich aufhorchen ließ. Er meinte, die Effekte des Schnees hätten Monet so sehr fasziniert, weil er so vergänglich ist. Vergänglich. Dieses Wort hat mich an Fabrice erinnert. Ich habe mich nicht sofort an den ganzen Satz erinnert, doch jetzt bin ich mir ganz sicher. Monet sei nicht nur ein Maler, sondern auch ein Poet gewesen, weil er das Vergängliche einfing, um den Augenblick festzuhalten.
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