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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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entgehen, doch er würde sich auf jeden Fall vor Gericht verantworten und eine saftige Geldbuße bezahlen müssen. Die Polizisten hatten ihm erlaubt, am Nachmittag nach Hause zu gehen. Der Rechtsanwalt Frédéric Solis war straffällig geworden.
    Als Frédéric die Gendarmerie verlassen hatte, schneite es weiter wie schon fast den ganzen Tag. Er hatte keineLust, nach Hause zurückzukehren, wusste aber nicht, wohin er sonst gehen sollte. Er roch nach Schweiß und fror. Als er reglos auf dem Bürgersteig stand, dachte er an die Seerosen. Diese Seerosen, die vor Monets Augen wuchsen wie in Tausenden Gärten unbekannter Leute auch. Welches war dieser göttliche Moment gewesen, als der Blick des Künstlers sich wandelte und er im Gewöhnlichen das Besondere sah? Ein anderes Licht vielleicht? Die Anregung eines Freundes? Eine Freude, die ihn veranlasste, alles zu zelebrieren, oder eine große Einsamkeit, die ihn dazu drängte, sich an eine Seerose zu klammern?
    Während die Schneeflocken auf sein Haar fielen, nahm er das Handy aus der Tasche und rief, ohne lange zu überlegen, Marcia an. Sie meldete sich nicht.
    Frédéric lag noch immer auf dem Boden seiner unordentlichen Wohnung und starrte auf den Sisley. Sein Magen verkrampfte sich, und er wandte den Blick ab. Ihm fehlten 30.000 Euro, um das Gemälde vor den Händen des Gerichtsvollziehers zu retten. Das waren lediglich 20 Prozent seines Wertes, aber dennoch sah er sich außerstande, das Geld aufzutreiben. Frédéric starrte auf die nackte Glühbirne, die an der Decke hing, wo noch vor Kurzem der Kristalllüster geprangt hatte. Die Zeit bis übermorgen verging langsam. Übermorgen ... der Besuch im Musée d’Orsay.
    Plötzlich klopfte es an der Tür. Frédéric erhob sich in seiner zerknitterten Kleidung und spähte beunruhigt auf die Wohnungstür. Wer könnte ihn zu dieser nächtlichen Stunde besuchen? Er schaute auf die Uhr. Es war erst 18:00 Uhr. Frédéric hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er öffnetedie Tür. Der Mann aus Witherspoons Adressbuch stand vor ihm.
    Michael S. war Immobilienmakler und kaufte und verkaufte überwiegend Prestigeobjekte für reiche Leute. Die meisten Transaktionen gingen schnell über die Bühne, oft wurden sie in bar abgewickelt und hinterließen kaum Spuren. Frédéric hatte ihn vor der Katastrophe mit Witherspoon kontaktiert, und da es ungewohnt für ihn war, keine Assistentin mehr zu haben, hatte er den Termin vergessen.
    Frédéric entschuldigte sich für die Unordnung, doch der Immobilienmakler hörte ihm gar nicht zu. Er ging sofort auf das Fenster zu, um sich die Aussicht anzusehen. Dann durchquerte er die ganze Wohnung.
    »Wie viele Schlafzimmer haben Sie?«, fragte er.
    »Eins und ein kleines Arbeitszimmer.«
    »Die Grundfläche der Wohnung bietet genügend Platz für mindestens zwei schöne Schlafzimmer. Haben Sie in der Wohnung bauliche Veränderungen durchgeführt?«
    »Ja«, gab Frédéric zu.
    »Ich verstehe. Mit einem zusätzlichen Schlafzimmer könnte ich die Wohnung zu einem besseren Preis verkaufen.«
    »Ich möchte sie so verkaufen, wie sie ist«, unterbrach Frédéric ihn.
    Der Immobilienmakler wusste, dass es keinen Zweck hatte, darauf zu bestehen. Sie unterschrieben die Papiere. Als der Makler an dem Sisley vorbeikam, sagte er »hübsches Bild« und verschwand.
    Frédéric trat ans Fenster. Er nahm sein Handy und versuchte erneut, Marcia zu erreichen. Doch sie meldete sich nicht. Er schaute hinaus auf die Stadt und hatte das Gefühl, das Herz von Paris würde nun ohne ihn schlagen. Bald würde er diese Aussicht nicht mehr genießen können. Merkwürdigerweise empfand er keine Trauer. Eigentlich spürte er gar nichts. Keine Freude und keinen Kummer. Nur die Zeit, die verging und ihn in eine unbekannte Welt hineinzog. Frédéric war davon überzeugt, dass nach dem 24. Dezember nichts mehr so sein würde, wie es war. Er begab sich genau in das Auge des Orkans, und dieses Auge, das ihn ansah, war das Auge Kains. Frédéric zog die Vorhänge zu und setzte sich vor dem verschneiten Weg des Sisley-Gemäldes auf den Boden. Er wollte den Anblick noch ein letztes Mal genießen.
    Um Mitternacht saß Frédéric noch immer dort. Auf seinem Wecker im Schlafzimmer ging der 22. in den 23. Dezember über. Am nächsten Tag würde er das Musée d’Orsay besuchen.

Pétronille steuerte auf den Aufzug in der dritten Etage zu. Ernests Lebensbeichte hatte sie erschüttert. Sollte sie Frédéric die ganze Geschichte erzählen? Es war

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