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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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es ursprünglich geplant hatte.
    »Meine Frau und ich, wir hatten einen Sohn. Frédéric. Den besten Jungen der Welt. Wir waren ein Herz und eine Seele. Er war ... ach, Pétronille, wie soll ich ihn beschreiben! Er war mein Kind, mein kleiner Junge. Und ich liebte ihn über alles. In jenem Winter war er sieben Jahre alt. Als die Wahrheit ans Licht kam, verbot die Familie meiner Frau mir, ihn zu sehen. Ich konnte mich nicht einmal von ihm verabschieden, doch ich dachte immer, ich würde ihn schon wiedersehen, wenn sich die Gemüter erst einmal beruhigt hätten. Ich hoffte, meine Frau würde mir eines Tages verzeihen und verstehen, dass meine Beziehung zu Simon weder abartig noch eine ansteckende Krankheit war. Tag und Nacht dachte ich an meinen kleinen Jungen, an meinen Sohn, der älter wurde und mir sicher ähnelte. Doch ich durfte ihn nicht sehen.
    Zu jedem Geburtstag schickte ich ihm ein kleines Geschenk. Und an Weihnachten stöberte ich wie alle Eltern stundenlang in den Spielwarenabteilungen der großen Warenhäuser, um ihm eine besondere Freude zu machen. Ich stellte mir vor, wie er in seinem kleinen Pyjama vor dem Christbaum spielte, den ich nicht mehr schmücken durfte. Ich verpackte das Geschenk in hübsches Papier und bandeine Schleife um das Paket. Auf den Anhänger schrieb ich jedes Mal: ›Für Frédéric von deinem Papa, der dich sehr lieb hat‹. Zehn Jahre lang hoffte ich an den Tagen nach Weihnachten inständig, dass der Briefträger nicht kommen würde. Doch er brachte mir mein Paket jedes Mal zurück. Es war ungeöffnet, und mein Junge hatte meine Grüße nicht gelesen.
    Hätte ich Simon verlassen, wenn ich an jenem Dezembertag im Jahre 1979 gewusst hätte, dass ich meinen Sohn niemals wiedersehen würde? Denn, Pétronille, mit diesem Mann war ich 20 Jahre lang glücklich. Wir lebten in seinem Haus in Vétheuil in der Nähe von Monets Haus oder in einer Wohnung in Giverny. Simon wurde die Leitung der Neugestaltung des Gartens in Giverny übertragen, und ich habe noch einige Kalender entworfen und mich ansonsten um seine Kunstgalerie gekümmert, bis sie vor einigen Jahren geschlossen wurde. Verstehen Sie, Pétronille, vor welche Entscheidung das Schicksal mich gestellt hatte? Ich musste die Wahl treffen zwischen meiner großen Liebe und meinem über alles geliebten Sohn.«
    Erinnere dich an die große Liebe, die den Winter tief in ihrem Inneren verbarg , dachte Pétronille. Ehe sie überlegen konnte, wo sie diesen Satz schon einmal gehört hatte, fuhr Ernest fort.
    »Kurz vor dem 20. Geburtstag meines Sohnes verlor ich seine Spur, doch dank eines Zeitungsartikels fand ich sie ein paar Jahre später wieder. In dem Artikel stand, dass er zum Studium an einer großen amerikanischen Universität zugelassen worden war. Jamel bestand darauf, dass ich ihm schreibe. Allein hätte ich niemals den Mut aufgebracht. Ichschrieb ihm einen langen Brief, erklärte ihm, wie ich lebte, und bat ihn, mir zu verzeihen. Auch dieser Brief kam zurück. Ich hatte Jamels Adresse angegeben, denn dort wohnten Simon und ich, wenn wir in Paris waren. Ich konnte mich nicht von ihm verabschieden, und damit habe ich mich niemals abgefunden.
    Nun hat das Leben mir befohlen, mich von allem loszusagen, was mir etwas bedeutet. Doch ich kann mich auch jetzt nicht von meinem Sohn verabschieden, weil er nicht da ist. Ich weiß, dass Jamel, der gute Jamel, der immer vor Ideen sprüht, hinter meinem Rücken etwas ausheckt, um unser Wiedersehen herbeizuführen. Ich lasse ihn gewähren. Ich lasse ihn gewähren, aber ...«
    Er lächelte, und Pétronille wusste, dass es nun tatsächlich Zeit für sie war, sich zu verabschieden.

Mit Trauerrändern unter den Fingernägeln und in einem schmutzigen Hemd lag Frédéric ausgestreckt auf dem Parkettboden. Der Sessel war ebenso verschwunden wie die Konsole. An der Wand standen Umzugskartons, in die die Sachen aus den wertvollen antiken Möbeln wahllos hineingeworfen worden waren. Dutzende von Büchern über die Impressionisten lagen rings um Frédéric verstreut auf dem Boden.
    Als die Dämmerung hereinbrach, war er aus Giverny zurückgekehrt. Mittlerweile hatte er aufgehört zu zittern. Sie hatten ihn mehrere Stunden in der Gendarmerie in Giverny festgehalten und seine richtige Identität binnen weniger Minuten festgestellt. Monets Garten gehörte zum Weltkulturerbe der UNESCO , und Vandalismus an diesem ehrwürdigen Ort wurde streng bestraft. Frédéric konnte zwar einer sofortigen Inhaftierung

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