Und wenn es die Chance deines Lebens ist
Nile war mein Freund. Ich habe ihn im Krankenhaus kennengelernt, er war häufig hier. Er war jemand, der andere mit vollen Händen beschenkte, obwohl er nicht viel besaß. Das Leben hat es nicht immer gut mit ihm gemeint. Als ich sah, wie er seine Schatzkarte malte mit all den kleinen Dingen, von denen er träumte, zerriss es mir fast das Herz. Eine Zeit lang hat er bei mir gewohnt. Als er starb, waren wir die Einzigen, die um ihn geweint haben. Wenigstens hatte er uns, verstehen Sie? Gilles, Maurice, Bertrand, Ernest und mich. Wir waren seine Familie und haben hier im Krankenhaus eine recht fröhliche Trauerfeier für ihn ausgerichtet. Ich hatte das Gefühl, ich könnte Fabrice da oben lachen hören. Es hätte ihn gefreut, uns alle zusammen zu sehen. Ernest hielt wie immer eine schöne Rede, und ich dachte wieder einmal, was für ein Glückspilz ich doch bin, einen Ersatzvater wie ihn zu haben. Ich musste an Ernests Sohn Frédéric denken, der alles besaß, wovon Fabrice nur träumen konnte. Doch er hatte nicht das Glück, Ernests schöne Rede zu hören und eine so nette Familie zu haben wie ich. Es gibt keine Gerechtigkeit. Zugleich war da dieser Sohn, auf den sein Vater sozusagen keinerlei Anspruch hatte, der kleine unschuldige Junge, der mit dieser Leerstelle leben musste. Sie wurde ein Teil von ihm, und schließlich wollte er nicht mehr, dass sich daran etwas änderte. Und an jenem Tag beschloss ich, alles zu tun, was in meiner Macht stand, um den Lauf der Dinge zu ändern, weil Fabrice gestorben war und Ernest auch bald sterben und es dann zu spät sein würde. Ich sprach mit Gilles, Maurice und Bertrand darüber. Sie waren es, die die Idee mit der Schatzkarte hatten.
Fabrice hinterließ kein Testament, weil er glaubte, nichts zu besitzen. Doch er hatte diese Schatzkarte, auf der alles zu finden ist. Die Suche nach seiner persönlichen Wahrheit, sein Hass auf die Intoleranz und sein Leitspruch ›den Augenblick einfangen‹. Carpe diem bedeutete für ihn, die schönen Dinge zu genießen, ehe sie verschwinden. Ich fand, das sei das Beste, was ein Mensch einem anderen hinterlassen kann. Dann die Fahrscheine für den Zug und für die Bootstour und die Eintrittskarte für den Garten ... Wissen Sie, manchmal können wir uns besser in Fremde hineinfühlen als in die, die uns nahestehen. Flüchtige Begegnungen mit Fremden verändern vielleicht nicht unbedingt unser Leben, aber sie können Einfluss auf unsere Sicht der Dinge nehmen. Denn man lernt das Leben auch durch die Begegnung mit anderen Menschen kennen. Also haben wir für Frédéric diese Treffen eingefädelt ...«
Pétronille fragte sich, was während dieser Treffen passiert war. Jamel sprach von Seerosen, die man im rechten Augenblick pflücken müsse. Von der persönlichen Wahrheit, dem Besuch des Friedhofs in Vétheuil und der Intoleranz einiger unangenehmer Zeitgenossen.
»Und sie haben alle wie Schauspieler ihre Rolle gespielt?«, fragte Pétronille.
»Eine Rolle? Keiner von ihnen hat gelogen, Pétronille. Maurice hatte die Idee mit Giverny. Er ist es, der die Gärten so sehr liebt und dem es dennoch niemals gelang, den Zauber seines Teiches einzufangen. Er glaubte so fest an das Morgen, dass er das Heute vergaß. Er ließ die Liebe seines Lebens gehen, denn er schaffte es einfach nicht, dieser Frau zu sagen, dass er sie liebt. Und Bertrand bewunderte Simon grenzenlos. Bertrand ist ein Freund von mir aus Kindertagen, und er hat lange Zeit bei mir gewohnt. Simon und Ernest kamen oft zu mir. Simon hatte das Talent, große Dinge allein um ihrer selbst willen zu erschaffen. Er lebte sein Leben wie ein Künstler, und das war ansteckend. Wenn Bertrand sich für das weite Meer als Ausdruck seiner Freiheit entschieden hat, dann dank Simon, der ihn dazu ermutigte. Ich fahre oft mit Bertrand nach Vétheuil, seitdem Ernest krank ist. Bertrand leidet besonders unter dem Verlust, glaube ich. Es ist schwer, mit ansehen zu müssen, wie diese Männer sterben. Plötzlich büßt das Leben etwas von seinem Glanz ein. Und Gilles ... Gilles, der vermutlich nicht einmal seinen 20. Geburtstag erleben wird, glauben Sie mir, er weiß genau, wie sinnlos Lügen sind und dass das Leben keinerlei Aufschub duldet.«
»Und Sie?«
»Ich? Frédéric kennt mich. Ich habe ihm alles erzählt. Zumindest fast alles.«
»Das Wichtigste ist das, was man verschweigt.«
»Ich weiß nicht, ob es das Wichtigste ist. Und ich weiß nicht, warum ich es Frédéric verschwiegen habe. Vielleicht
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