Und wenn es die Chance deines Lebens ist
weil ich der Einzige in ganz Paris bin, der weiß, dass sich hinter seiner eleganten Kaschmirmantel-Fassade eine trostlose Kindheit verbirgt. Es ist besser, wenn er mich auch so sieht – wie einen Bruder.«
»Und sind Sie das nicht, ein Bruder?«
»Meine Eltern sind bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen. Warum gerade ein Hubschrauber? Mein Vater war einer der reichsten Männer Frankreichs, und meine Eltern wollten an der Riviera Urlaub machen. Nach ihrem Tod habe ich mehr Geld geerbt, als ich in meinem ganzen Leben ausgeben kann. All die Träume der anderen, Fabrice’ Corvette, Frédérics Meisterwerke, die Strände der Seychellen der Patienten in meinen Kursen – ich brauche nur mit dem Finger zu schnippen, und schon habe ich alles. Ich kann von mir behaupten, dass ich eine Menge über Schatzkarten weiß. Eines der Dinge, die ich geerbt habe, ist ein herrschaftliches Stadthaus im 7. Arrondissement, eines der schönsten Häuser von Paris. Zwölf Zimmer, überall Marmor und vergoldeter Stuck. Für mich sind es jedoch nur zwölf leere Zimmer. Als meine Eltern bei dem Unfall starben, habe ich viel Geld geerbt – und eine große Leere, die ich füllen musste. Das Schicksal hat es zum Glück so eingefädelt, dass ich Ernest, Simon, Bertrand, Gilles, Maurice und Fabrice begegnet bin. Nun sind Fabrice und Simon tot; Ernest wird es auch bald sein und Gilles möglicherweise auch. Und Maurice wird langsam alt. Die Menschen, die man liebt, trifft man nur auf der Durchreise.«
»Vielleicht liegt darin der Schatz verborgen. In den Tagen, die noch bleiben«, sagte Pétronille in sanftem Ton, ohne genau zu wissen, warum. Es war ihr einfach so herausgerutscht.
Jamel betrachtete sie, wie man eine Schwester betrachtete, eine Freundin, einen Menschen, dem plötzlich eine große Bedeutung zukam. Es wurde Abend, und sie saßen noch immer in der Kantine des Krankenhauses. Die Stunden enthielten jetzt einen Sinn. Zwischen den beiden hatte es gefunkt, und ein Knistern lag in der Luft, so leise wie das Rieseln des Schnees. Es hatte fast den Anschein, als würde alles ringsherum aus Ehrfurcht vor ihrer aufkeimenden Liebe verstummen.
»Wissen Sie, dass Ernest Bescheid weiß?«, fragte Pétronille ihn. »Offenbar ahnt er, dass etwas im Gange ist, natürlich ohne irgendwelche Details zu kennen.«
»Nein, das wusste ich nicht.« Jamel seufzte. »Ich wollte es ihm nicht sagen, um keine falschen Hoffnungen in ihm zu wecken. Aber vielleicht ist es gerade diese Hoffnung, die ihn noch am Leben hält.«
Ein Mitarbeiter der Kantine nahm die leere Teetasse vom Tisch und wischte ihn ab. Pétronille dachte nach.
»Sie haben gesagt, dass Frédéric sein Gemälde dann nicht bekommen würde. Welches Gemälde meinten Sie?«
»Ach, das Gemälde«, sagte Jamel mit einem verschmitzten Lächeln.
Er sprach weiter, und Pétronille hörte ihm gebannt zu. Immer wieder schoben sie ihren Aufbruch hinaus. Es war spät geworden, als Jamel seine Telefonnummer auf das Etikett des Teebeutels schrieb und sie sich trennten.
An diesem Abend rief Pétronille Dorothée nicht an. Sie setzte sich an den Küchentisch und schaute auf ihre Schatzkarte. Mit verträumter Miene legte sie das Etikett des Teebeutels auf die Collage – und klebte es fest.
Frédéric ging am Parc Montsouris entlang. Es war Nacht geworden. Er starrte auf eines der erleuchteten Fenster, hinter dem er eine Silhouette erkennen konnte. Seit fast einer halben Stunde hielt er sich hier auf und hatte das Fenster schon zweimal hinter sich gelassen. Jedes Mal kehrte er wieder um und stellte sich in seinem zerknitterten Kaschmirmantel und in den schmutzigen Schuhen vor die Eingangstür des Wohnhauses. Frédéric drückte auf die Klingel. Er wusste, dass Marcia zu Hause war und ihn auf dem Monitor sehen konnte. Auf seine fünf Anrufe seit gestern hatte sie nicht reagiert. Er wartete und sagte: »Marcia, bitte ...«
Nichts geschah. Er wartete noch immer. Schließlich stieg er mit gesenktem Kopf die wenigen Stufen zur Straße hinunter. Wohin sollte er jetzt gehen, nachdem Marcia ihn aus ihrem Leben gestrichen hatte? Frédéric wusste es nicht. Als er ein paar Schritte in Richtung Park ging, hörte er das Summen der Tür. Marcia ließ ihn ins Haus. Er lief in die Eingangshalle und stieg in den Aufzug.
Endlich stand Frédéric vor ihr. Marcia hatte ihm die Wohnungstür geöffnet, mit ihrem schönen langen Haar, die kleine Brille mit der goldenen Fassung auf der Naseund ohne jeden Hauch von
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