Und wenn wir fliehen (German Edition)
dich?«, fragte ich leise. »Du kannst ehrlich zu mir sein, das weißt du.«
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Natürlich fällt es mir schwer, die Insel zu verlassen, jetzt wo sie praktisch zerstört ist. Aber dich zu verlassen wäre noch viel schlimmer. Du hast immer hinter mir gestanden, vom ersten Tag an, als ich dich um Hilfe dabei bat, die Autos für die Essensausfahrten aufzutanken. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich will das für dich tun. Wenn du mich brauchst, bin ich für dich da – ich will, dass du das weißt.«
»Gav«, antwortete ich. Mir fehlten die richtigen Worte, um auszudrücken, was ich fühlte. Diese Entschlossenheit und diese Hingabe, mit der er dafür gesorgt hatte, auf der Insel alles in Gang zu halten – dass er das jetzt alles für mich ganz allein einsetzen wollte, war einfach unglaublich, eigentlich unmöglich. Ich ergriff die Vorderseite seiner Jacke, zog ihn zu mir, streckte das Gesicht nach oben, um seine Lippen zu erreichen, und versuchte meine ganze Dankbarkeit in diesen Kuss zu legen. Er schlang die Arme um mich und hielt mich ganz fest.
»Ich weiß es«, sagte ich leise, als er mich wieder losließ, und er lächelte und küsste mich noch einmal.
»Wenn wir zu sechst sind, brauchen wir auf jeden Fall mehr Proviant«, sagte er. »Lass uns mal sehen, was wir hier so auftreiben können.«
Als es am Abend langsam dunkler wurde, brachen wir zusammen ins Hafengebäude ein. In dem Kiosk neben dem Fahrkartenschalter lagen nur noch ein paar zerknüllte Verpackungen, aber Tobias brach mit dem Werkzeug aus seinem Truck den verschlossenen Lagerraum auf. Und bald schon ergänzten wir seine Vorräte mit mehreren Kisten Wasser und Kartons voller Schokoriegel und gerösteten Erdnüssen, deren Haltbarkeitsdatum kürzlich abgelaufen war. Tobias begann die Ladung im Truck hin und her zu schieben, um mehr Bodenfläche freizumachen. »Es ist besser, wenn wir hier drin schlafen«, sagte er. »Ein kleinerer Raum hält die Wärme leichter.« Während er noch beschäftigt war, liefen Gav, Tessa, Meredith und ich die Hauptstraße des Ortes entlang und inspizierten die Ladenfronten.
Vielleicht ist Drew hier vorbeigekommen, dachte ich, vor all den Wochen, als er aufgebrochen war. Falls er es lebend über die Meerenge geschafft hatte. Damals waren einige dieser Läden womöglich noch geöffnet gewesen. Inzwischen waren sie alle längst verlassen. Die meisten Türen hingen in den Angeln und schwangen im Wind hin und her.
Gav entdeckte ein Strickwarengeschäft. Wir gingen hinein, und Tessa suchte für jeden von uns einen zusätzlichen Pullover und eine dicke Wollmütze aus. Ich schnappte mir ein paar Decken, während Gav einige Plastiktüten hinter der Kasse hervorkramte, um unsere Beute darin zu verstauen.
Die Zeitung im Ständer des Lebensmittelladens weiter unten in der Straße war auf den 5. November datiert. Das war vermutlich der Tag, an dem der Besitzer geflohen war. Oder krank geworden. Die Schlagzeile auf der ersten Seite lautete: Insel-Grippe überrollt die Krankenhäuser , während im nachfolgenden Artikel berichtet wurde, wie den medizinischen Versorgungseinrichtungen im ganzen Land der Platz ausging. Das unscharfe Foto der Patientenmenge, die sich in der Eingangshalle eines Krankenhauses in Halifax drängte, katapultierte mich zurück in die Vergangenheit. Wenige Monate zuvor hatte es in unserem Krankenhaus genauso ausgesehen.
All diese Menschen, die da angsterfüllt in die Kamera blickten, waren jetzt tot.
Ich wandte mich ab. Die Regale, die normalerweise voller Lebensmittel standen, waren leer. Ich nahm ein paar Feuerzeuge aus einer Schachtel auf dem Tresen, dazu einige Zeitschriften zum Anfachen. Meredith gab einen Freudenschrei von sich und präsentierte mir eine Dose gebackener Bohnen, die frühere Plünderer offenbar übersehen hatten.
Kein Laut war zu hören, als wir unseren Weg die Straße hinunter fortsetzten, nur das Gezwitscher einiger Spatzen auf der überflüssig gewordenen Telefonleitung. Ich entdeckte keinen einzigen menschlichen Fußabdruck, außer unseren eigenen. Nirgendwo stieg Rauch aus den Schornsteinen der vor uns liegenden Häuser. Der ganze Ort wirkte, als hätte schon seit Ewigkeiten niemand mehr dort gewohnt.
Ergab ja auch Sinn. Warum sollte irgendwer das Bedürfnis haben, nur ein paar Kilometer entfernt von unserer Insel zu bleiben, die wegen eines tödlichen Virus abgeriegelt war? Vielleicht waren einige der Stadtbewohner gestorben, aber die meisten
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