Und wenn wir fliehen (German Edition)
anderen jetzt gut und dass es eine gerechte Strafe wäre, wenn sie sich den Hubschrauber schnappen und ein paar Bomben da abwerfen würden. Eine größere Schießübung eben.«
»Da waren Kinder«, sagte Gav. »Und alte Menschen, die ihre Häuser nicht verlassen konnten, selbst wenn sie gewollt hätten. Wir haben nur versucht zu überleben, genau wie alle anderen.«
»Ich weiß«, erwiderte Tobias und klang jämmerlich. »Ich hab schließlich nicht in dem Hubschrauber gesessen, oder? Nachdem ich ihr Gerede gehört hatte, hab ich mir einen der Trucks geschnappt und bin so schnell wie möglich hierhergerast. Ich hab ja nicht geahnt, dass sie es sofort machen wollten. Ich hatte die Hoffnung, sie würden sich vielleicht wieder einkriegen und die ganze Sache vergessen. Aber sie müssen mitbekommen haben, dass ich weg bin und wollten mich einholen. Was sie ja auch geschafft haben.«
»Du wusstest also, was die vorhaben, und bist einfach abgehauen«, stellte Leo fest. »Und du hast nicht mal versucht, es ihnen auszureden.« Dabei lag keine Frage in seiner Stimme.
»Die hätten nicht auf mich gehört«, entgegnete Tobias. Haben sie nie. Die – ich schwör’s …, ihr wisst ja nicht, wie es war.«
»Wir wissen, dass sie fast unsere ganze Stadt in die Luft gejagt haben«, erwiderte ich. »Und du konntest nicht wenigstens irgendetwas sagen?«
Tobias zog die Schultern hoch. »Hört mal«, sagte er. »Ich hab mir den Arsch aufgerissen, um hierherzukommen. Glaubt ihr denn, die lassen mich jetzt wieder auf den Stützpunkt? Ich hab getan, was ich konnte.«
Meredith wurde neben mir unruhig. »Kae«, sagte sie, »was machen wir denn jetzt? Fahren wir zurück auf die Insel? Was, wenn der Hubschrauber wiederkommt?«
»Natürlich fahren wir zurück«, sagte Gav, noch bevor ich eine Chance hatte zu antworten. »Wer immer das überlebt hat, braucht jetzt unsere Hilfe.«
Ich blickte auf die Meerenge, dann hinunter auf die Kühlbox. Jede einzelne Faser in mir sträubte sich gegen den Gedanken, den Impfstoff wieder zurück auf die Insel zu bringen. Wir hatten nicht die geringste Ahnung gehabt, dass so etwas passieren könnte. Was würde sonst noch alles geschehen, was wir nicht voraussehen konnten? Zurückzukehren erschien mir plötzlich ein weitaus größeres Risiko als fortzugehen.
»Ihr könnt zurückfahren«, sagte ich. »Aber ich nicht. Wir hätten beinahe den Impfstoff verloren. Ich muss ihn zu jemandem bringen, der was damit anfangen kann, solange ich noch die Chance dazu habe.«
»Du willst sie einfach so aufgeben?«, fragte Gav und deutete auf die Insel.
Mir schnürte sich der Hals zu. »Ich will natürlich auch, dass es ihnen gutgeht«, antwortete ich. »Aber ich bin keine Superheldin, Gav. Was kann ich denn schon tun, was sie nicht auch alleine hinkriegen würden? Diejenigen, die unverletzt geblieben sind, wissen, wo sie Schutz und etwas zu essen finden, und denjenigen, die es nicht sind, kann ich sowieso nicht helfen.«
»Das stimmt«, murmelte Tessa. »Wir sind schließlich keine Ärzte.«
»Aber das hier kann ich tun«, fuhr ich fort und tippte die Kühlbox an. »Das hier muss ich tun.«
»Ohne Proviant können wir nirgendwohin – und ohne Auto«, protestierte Gav.
»Ich weiß«, sagte ich. Der Geländewagen war vermutlich mit in die Luft geflogen. Und selbst wenn nicht, ich hatte ohnehin nicht das Gefühl, noch einmal einen Fuß auf die Insel setzen zu können, nicht mal für ein paar Minuten. Wenn ich die Zerstörung erst mit eigenen Augen sehen würde, wäre ich womöglich nicht mehr fähig, wieder fortzugehen. »Vielleicht kann ich das Boot nehmen. Auf dem Fluss würde ich fast bis dorthin kommen.«
»Du würdest erfrieren. Was, wenn es einen Sturm gibt? Kae …« Gav brach ab und sah mich aufmerksam an. »Du hörst mir gar nicht zu, egal, was ich sage, stimmt’s?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht, solange es nicht was damit zu tun hat, diese Proben nach Ottawa zu bringen.«
Er seufzte und blickte auf Tobias’ Truck. Dann drehte er sich plötzlich um.
»Gib mir den Schlüssel.«
»Was?«
»Den Schlüssel für den Truck. Ich will ihn mir mal ansehen.«
Er streckte die Hand aus. Tobias kniff die Augen zusammen und reichte ihm zögernd einen Ring mit einem einzelnen Schlüssel daran. Wir sahen zu, wie Gav zu dem Militärlaster schritt und den Laderaum öffnete. Er kletterte hinein, den harten Klang seiner Stiefel auf dem metallenen Boden. Das laute Geräusch schien Tobias aus seiner Erstarrung zu
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