Und wenn wir fliehen (German Edition)
»Ich wusste nicht, dass es so schrecklich war.«
Ich bohrte die Finger in meine Handflächen. »Das hab ich nicht gesagt. Es ist viel komplizierter, Leo. Tessa ist meine Freundin. Du müsstest eigentlich auch mein Freund sein. Ich kann nicht …«
Ich war nicht in der Lage, diese Diskussion noch weiter fortzusetzen, nicht nachdem Gav sich auf der Straße, wo er bei den anderen stand, zu uns umgedreht hatte. »Kae?«, rief er und blickte suchend in den Wald.
Leo sah mich beinahe erwartungsvoll an. Tief unten in meinem Bauch formte sich so etwas wie ein Eisklumpen.
»Vergiss es«, sagte ich. »Wir müssen los. Es ist jetzt sowieso nicht mehr wichtig.«
Ich machte ein paar Schritte um ihn herum und ging zurück zu dem, was jetzt wichtig war.
Wir schafften noch zehn Kilometer, bevor wir zum Übernachten in einer winzigen Stadt haltmachten, die aus kaum mehr als einer Ansammlung von Häusern, einer Kirche und einem kleinen Lebensmittelladen bestand. Irgendjemand hatte einen Kleinlaster in die Wand des Geschäfts gefahren. Das Schaufenster war zersplittert und die Motorhaube war, soweit wir es erkennen konnten, völlig eingedrückt. Ich fragte mich, ob der Fahrer wohl krank gewesen war und gerade halluzinierte, als der Unfall passierte.
Obwohl nirgends Fußabdrücke oder Reifenspuren zu sehen waren, gingen wir nur langsam die Straße hinunter und blieben hin und wieder stehen, um zu horchen. Außer dem Geräusch des Windes erreichte uns kein Laut. Meine Augen schmerzten vor Kälte und meine Beine vom Laufen. Ein Taubheitsgefühl nahm mir langsam die Empfindung in den Füßen, trotz der dicken Stiefel und der zwei Paar Socken, die ich übereinandertrug. Meredith ließ den Kopf hängen. Aber wir mussten noch ein Stückchen weiter.
Ich war ziemlich erleichtert, als wir beim zweiten Versuch auf ein unverschlossenes Haus stießen. Wir gingen hinein, traten uns aus purer Gewohnheit die Schuhe auf der Fußmatte ab. Dabei würde sich kein Mensch für den Zustand des Bodens interessieren. Bilderlose Nägel sprenkelten die Wände im Wohnzimmer, Schränke und Betten waren leergeräumt. Die Menschen, die hier wohnten, hatten offensichtlich versucht, vor dem Virus zu fliehen. Die Leere der Stadt schien durch die Wände zu hallen.
Gav stocherte im Kamin herum. »Scheint benutzbar zu sein«, stellte er fest. »Hier liegen sogar noch ein paar kaum angekohlte Holzscheite.«
»Wird der Rauch uns denn nicht verraten, falls die Leute in dem Lieferwagen noch nach uns suchen?«, fragte Tessa.
»Wenn’s erst mal dunkel ist, sind wir sicher«, erwiderte Tobias. »Ich … ich geh mal einen Blick auf die Bäume werfen, die hier in der Gegend so rumstehen. Ob wir vielleicht an ein paar Fichtenzweige rankommen, oder Holunder, die machen nicht so viel Rauch.
»Ehrlich?«, fragte Gav. »Holz ist doch Holz, oder?«
Tobias zuckte mit den Schultern, den Kopf gesenkt. »Wir hatten eine ganze Ausbildungseinheit darüber, wie man sich vor dem Feind verbirgt, wenn man im Freien stationiert ist. Da hab ich’s mit eigenen Augen gesehen.«
Eine Stunde später tanzten die Flammen im Kamin und verströmten eine spärliche Wärme und den würzigen Duft von Fichtenholz im Wohnzimmer. Wir hockten uns dicht davor und wechselten uns damit ab, Dosen mit Suppe auf dem Rost zu erhitzen. Kribbelnd kehrte langsam das Gefühl zurück in meine Füße.
»Wir sollten darauf achten, nicht zu viel zu essen«, sagte Leo. »Wo wir jetzt länger unterwegs sein werden als erwartet.«
»Aber wenn wir genug Kraft zum Laufen haben wollen, dürfen wir uns auch nicht zu sehr einschränken«, wandte ich ein.
»Armeerationen machen ziemlich satt«, sagte Tobias. »Dafür sind sie da. Ich denke, wir kommen noch locker über die nächsten zehn Tage.« Er hielt inne. »Es ist eher das Wasser, über das ihr euch Gedanken machen müsst. Am besten wir schmelzen hier etwas von dem Schnee und füllen die leeren Flaschen damit auf, bevor wir aufbrechen.«
Nachdem Essen gingen er, Tessa und Leo mit den drei Töpfen, die wir in der Küche gefunden hatten, nach draußen und kamen mit jeder Menge Schnee wieder zurück. »Vorsicht«, sagte Tobias, als er seinen Topf am Rand der Feuerstelle absetzte. »Wir müssen zuerst ein bisschen Wasser reintun. Sonst kann das verdammte Zeug – ob ihr’s glaubt oder nicht – unten im Topf anbrennen.«
»Schlafen wir hier auf dem Fußboden?«, fragte Meredith. »Einfach so?«
»Wir könnten die Matratzen oben aus den Betten holen«, schlug
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