Und wenn wir fliehen (German Edition)
vorsichtiger sein müssen. Drew hatte sich an so einem Tag mal das Handgelenk gebrochen – das war acht Jahre her, aber ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie sein Knochen knackste, als ihm auf dem Bürgersteig plötzlich die Beine wegrutschten.
Drew hatte das Ganze natürlich gleich ausgenutzt. Weil er mit dem Gips nicht richtig schreiben konnte, überredete er Dad, ihm sein altes Dienstlaptop zu »leihen«, das die meiste Zeit in Dads Arbeitszimmer stand und einstaubte. Als der Gips wieder ab war, vereitelte er jeden Versuch, das Laptop zurückzufordern mit der unglaublichen Dreistigkeit, die er schon als Zehnjähriger besaß. »War es nicht schön, als Kaelyn und ich uns nicht dauernd um den Computer im Wohnzimmer gestritten haben?«, fragte er, und da ließ Dad ihn das Gerät behalten.
Mir wurde ganz eng in der Brust, als ich daran dachte. Drew war so unheimlich clever. Wusste so genau, was er wollte. Da war es doch nicht völlig verrückt von mir zu glauben, dass er vielleicht noch lebte, oder?
»Hier ist schon mal nichts«, sagte Gav und bückte sich, um eine leere Drahtschlinge neben dem Holzzaun hervorzuziehen, der die Weide umgab. »Na ja, wir können’s ja noch ein bisschen weiter versuchen.«
Er betrachtete die Falle noch einen Moment und hängte sie sich dann über den Arm.
»Bist du okay?«, fragte ich, während wir zur nächsten marschierten.
»Ja«, sagte er. »Bloß … ein bisschen ungeduldig wahrscheinlich. Ich vermisse den Truck.« Er lachte, aber es klang gezwungen.
»Ich auch. Ein Glück sind wir dieser Frau mit dem grünen Lieferwagen nicht noch mal über den Weg gelaufen.«
»Das kannst du laut sagen.« Er zog die zweite leere Falle hervor und hängte sie zur ersten. »Ist schon lustig«, sagte er kurz darauf. »Ich muss dauernd daran denken, wie scharf ich früher darauf war, von der Insel wegzukommen. Zusammen mit Warren auf große Tour zu gehen, das ganze Land anschauen und all die Dinge, die ich vermisst hatte. Rausfinden, wohin ich passe. Aber dann kommt auf einmal dieses Virus … und jetzt ist es sowieso egal. Jetzt ist überall alles im Arsch.«
In meinem Hals bildete sich ein Kloß. »Gav«, sagte ich leise.
»Und dann hat sich plötzlich rausgestellt, dass der einzige Ort, an dem ich ein bisschen was bewirken konnte, ausgerechnet die Insel war«, fuhr er fort. »Wer hätte das gedacht?«
»Du warst großartig«, sagte ich. Konnte es wirklich sein, dass er das gar nicht wusste? »Und dabei wird es nicht bleiben. Wenn das mit dem Impfstoff funktioniert, wenn die Menschen nicht mehr länger krank werden, dann können wir anfangen, alles wieder in Ordnung zu bringen.«
»Ja«, sagte Gav und nahm meine Hand, während wir unseren Rundgang um die Weide fortsetzten.
Auch die nächsten drei Fallen waren unberührt. »Ich hatte gehofft, wir würden wenigstens irgendwas fangen«, sagte er enttäuscht.
»Als Leo zurückkam, war es noch Herbst«, gab ich zu bedenken. »Jetzt halten die meisten Tiere Winterschlaf.«
»Stimmt.« Auf dem Weg zur nächsten Falle schwieg er. »Du und er … Ihr wart doch nie mehr als Freunde, oder?«
»Was?«, fragte ich. Die Hitze schoss mir ins Gesicht und ich war dankbar für den Schal, der meine Wangen verhüllte. Hatte er etwa irgendetwas gesehen oder zufällig aufgeschnappt? Aber was hätte das schon sein sollen? Schließlich antwortete ich vollkommen wahrheitsgemäß: »Ja. Wir waren immer nur Freunde.«
Gav blieb stehen und schlang die Arme um mich. »Tut mir leid«, sagte er, den Kopf ganz dicht zu meinem geneigt. »Keine Ahnung, warum ich gerade daran denken musste.«
»Ist schon gut«, erwiderte ich. Und wie zum Beweis zog ich unsere Schals ein bisschen herunter und gab ihm einen Kuss. Seine Lippen waren trocken, aber warm. Er hielt mich noch einen Moment lang fest, und ich wünschte, wir wären sonst wo, nur nicht mitten auf einer verlassenen Weide Hunderte Kilometer entfernt von allem, was uns vertraut war. Irgendwo, wo wir einfach ganz normal sein konnten, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick.
Als Gav mich wieder losließ, sagte mir sein sehnsüchtiger Blick, dass er sich dasselbe wünschte. Ein Prickeln überkam mich. Doch er legte bloß den Kopf zur Seite, lächelte mich an, jetzt ein bisschen weniger gezwungen, und sagte: »Wir sollten lieber zusehen, dass wir fertig werden, bevor die anderen noch einen Suchtrupp losschicken.«
Als wir uns der letzten Falle näherten, erspähte ich Fell unter dem Busch, wo wir sie
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