Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und wenn wir fliehen (German Edition)

Und wenn wir fliehen (German Edition)

Titel: Und wenn wir fliehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Crewe
Vom Netzwerk:
Kilometern.
    Würde ich die Kraft haben, uns alle heil dorthin zu bringen?
    Hatte ich überhaupt eine Wahl? Wenn ich vorgeschlagen hätte, auf die Insel zurückzukehren, hätten wahrscheinlich alle zugestimmt, aber der Weg zurück wäre kein bisschen weniger gefährlich. Und es würde bedeuten, dass wir an der Stadt vorbeikämen, wo wir Tobias’ Truck verloren hatten.
    Ich sog die frische Winterluft in die Lunge und hoffte, sie würde meine Gedanken beruhigen, doch sie rotierten immer weiter. Ich schlug den Straßenatlas auf. Wenn wir nach wie vor in Richtung Ottawa wollten, konnten wir nicht auf dem Highway bleiben. Wie die Frau mit der roten Mütze schon festgestellt hatte, gab es da Abschnitte, auf denen sie uns schon aus großer Entfernung sehen konnten.
    Zwischen den Bäumen war der Boden zwar viel holpriger als auf der Straße und mit Schnee statt mit Eis bedeckt, aber wahrscheinlich würden wir dort fast genauso schnell vorankommen. Die Schlitten ließen sich womöglich sogar leichter ziehen. Wir könnten am Highway entlang durch den Wald laufen, bis wir ein neues Auto fänden, mit dem wir eine ordentliche Distanz zwischen uns und die Leute in dem Lieferwagen legen konnten.
    Die Stimmen der anderen hinter mir schwollen an und wurden wieder leiser, gedämpft von den Bäumen. Als ich mich wieder aufrichtete, knirschten Schritte durch den Schnee. Ich drehte mich um und erwartete Gav. Doch es war Leo, der da auf mich zukam.
    »Alles in Ordnung, Kae?«, fragte er.
    Sein besorgter Blick und die Art, wie er meinen Namen aussprach ließen mein Herz schneller schlagen, genau wie an dem Tag in der Garage. Eine Welle der Enttäuschung überkam mich. Sie ließ meine Schultern verkrampfen und schnürte mir den Hals zu. Das konnte ich nicht auch noch gebrauchen. Nicht jetzt. Überhaupt nicht.
    »Ich wollte bloß mal einen Moment nachdenken«, antwortete ich.
    »Was Meredith passiert ist, war nicht deine Schuld«, sagte er, obwohl er genauso gut wie ich wissen musste, dass es das war.
    »Es ist meine Schuld, dass wir alle hier sind«, erwiderte ich. »Du hast mir gesagt, dass es schlimm werden würde. Du wusstest, dass es Leute gibt, die so durchdrehen. Aber ich habe entschieden, trotzdem zu gehen.«
    Er antwortete nicht, zuckte nur mit den Schultern und sah zu Boden. Ich konnte förmlich sehen, wie er sich an diesen fernen Ort in seinem Inneren zurückzog, und plötzlich war ich noch wütender. Ich wollte den echten Leo. Den Leo, der in der fünften Klasse jede abfällige Bemerkung unseres Lehrers über »Ausländer« einfach weglächelte. Den Leo, der, wenn er stolperte, nachdem er eine Drehung schon hundertmal wiederholt hatte, bloß lachte und sagte, er müsse eben noch ein bisschen üben. Den Leo, der sein Lieblings-T-Shirt ausgezogen hatte, um es als Verband zu benutzen, als ich damals vom Baum fiel und mir den Hinterkopf aufschlug, der zum nächstgelegenen Haus gerannt war, um Hilfe zu holen und anschließend bei mir saß, meine Hand hielt und mir auf dem ganzen Weg ins Krankenhaus Witze erzählte.
    Dieser Junge, der da vor mir stand und aussah, als würde er sich geschlagen geben – der Junge, der mich geküsst hatte, während seine Freundin sich nur ein Haus weiter befand, und dann so tat, als würde das nichts bedeuten –, das war nicht mein bester Freund. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn je wieder zurückbekommen sollte.
    »Du tust eben, was du tun musst«, sagte Leo schließlich. »Wegen dem Impfstoff. Wir alle verstehen das.«
    Ich war mir nicht sicher, ob das stimmte, aber ich wollte nicht länger reden. Also antwortete ich nur: »In Ordnung.« Ich setzte mich in Bewegung, um an ihm vorbeizugehen, doch er hielt mich am Arm fest.
    »Ist denn mit uns alles in Ordnung, Kae?«, fragte er.
    Vier Schichten Stoff trennten seine Haut von meiner, und trotzdem spürte ich ein leichtes Gefühl der Wärme an der Stelle, an der er mich berührte. Ich zog den Arm weg.
    »Sicher doch«, sagte ich, doch die Worte kamen so barsch aus meinem Mund, dass selbst ich sie nicht geglaubt hätte.
    »Es tut mir leid«, sagte er leise. »Was da in der Garage passiert ist … Das war dumm von mir. Aber es war mein Ernst, was ich da gesagt habe. Ich werd es nicht noch mal … es wird nicht wieder vorkommen.«
    »Du hättest es schon beim ersten Mal nicht tun sollen«, fuhr ich ihn an.
    Unzählige Gefühle huschten über Leos Gesicht, eins war jedoch unmissverständlich: Er war gekränkt. »Es tut mir leid«, wiederholte er kühl.

Weitere Kostenlose Bücher