Und wenn wir fliehen (German Edition)
»Womöglich kommt jemand, um nachzusehen, was los ist. Und wer immer diese Leute geschickt hat – wenn sie sich nicht zurückmelden, machen sich sicher noch mehr auf den Weg, um die Lage zu peilen. Wir können hier nicht bleiben.«
Er hatte recht. Ich drückte die Tasche an mich. »Wo sollen wir hin?
Gav blickte zur Straße. »Der Lieferwagen«, antwortete er. Sein Gesichtsausdruck wirkte angestrengt. »Einer von ihnen hat sicher den Schlüssel. Lasst uns einfach nehmen, was da ist.«
»Wir können auf jeden Fall davon ausgehen, dass er sich gut auf dem Schnee fahren lässt«, stimmte Tobias nickend zu.
Jede Faser meines Körpers wehrte sich gegen diese Idee. Der Gedanke, in den Lieferwagen zu steigen, in dem die Frau mit dem Gewehr gesessen hatte – die Frau, die jetzt tot dalag –, ließ mich erschaudern.
»Lenken wir damit nicht die Aufmerksamkeit auf uns?«, wandte ich ein. »Jeder, der uns damit vorbeifahren sieht, wird das Auto erkennen. Diese Gruppe scheint ihre Leute ja überall zu haben. Wie sollen wir denn unbemerkt bleiben, wenn wir einen Lieferwagen benutzen, den sie kennen?«
»Wir könnten ihn immer nur dann benutzen, wenn man ihn nicht so leicht sieht«, erwiderte Leo. »Nachts fahren, tagsüber ausruhen.«
»Ich habe absolut keine Lust, in einem Haus zu übernachten, vor dem wie ein Wegweiser dieser Lieferwagen steht«, sagte ich. »Das ist Wahnsinn. Genau danach werden sie suchen.«
»Dann nehmen wir ihn eben nur für heute Nacht«, erwiderte Gav. »Wir könnten ganz schön weit damit kommen, bevor die Sonne aufgeht.«
»Was bleibt uns denn verdammt nochmal anderes übrig?«, fragte Justin.
Ich biss mir auf die Lippe. Die Antwort lautete: nichts.
»Einverstanden«, sagte ich. »Wir fahren damit so weit wir können und lassen ihn dann stehen, bevor es hell wird. In Ordnung?«
Alle nickten. Tobias wandte sich an Justin. »Dir haben wir es zu verdanken, dass diese Leute tot sind«, sagte er. »Deshalb solltest du derjenige sein, der nach dem Schlüssel sucht. Sieh dir mal aus der Nähe an, was es bedeutet, jemanden umzubringen.«
Justin wurde ein wenig blass, presste jedoch den Mund zu einer flachen Linie zusammen und trottete zu der Leiche der Frau hinüber. Ich wollte das nicht mit ansehen und lief schnell in Richtung Wohnwagen. Es gab ein dumpfes Geräusch, als er sie umdrehte, und ich zuckte zusammen. Der tote Körper des zweiten Mannes wirkte wie ein großer dunkler Fleck auf dem weißen Schnee. Ich hastete daran vorbei, ohne den Blick von der Stelle abzuwenden, wo wir die Schlitten versteckt hatten, und hielt die Hände in den Jackentaschen zusammengekrampft.
Die anderen folgten mir zum Wohnwagen. Wir beförderten einen Schlitten nach dem anderen darunter hervor. Ich stellte die Kühlbox auf meinen und zog ihn zur Straße hinauf. Der grüne Lieferwagen war auf dem geschotterten Seitenstreifen des Highways geparkt. Ich zögerte einen Moment, dann versuchte ich, die Tür zu öffnen.
Sie hatten ihn noch nicht einmal abgeschlossen. Was nicht hieß, dass wir ihn ohne Schlüssel hätten fahren können. Auf dem Armaturenbrett lag ein Funkgerät. Als ich außen herumging, um die hinteren Türen zu öffnen, begann es zu knistern.
»Brunswick, dritte Division, irgendwas Neues?«, erkundigte sich eine Frauenstimme. Dieselbe nasale Stimme, die über den Funkempfänger mit uns gesprochen hatte. Die Stimme, die uns Hilfe angeboten hatte. Ich ließ den Schlitten hinten am Lieferwagen stehen, schob mich auf den Beifahrersitz und nahm das Gerät in die Hand. Als es erneut anfing zu knistern, schaltete ich es aus.
Der Sitz war bequemer als der in Tobias’ Truck. Die »Division« der blonden Frau hatte anscheinend wählerischer sein können.
Brunswick, dritte Division, das ließ vermuten, dass es mindestens noch zwei weitere Gruppen gab, die in der Gegend patrouillierten, oder?
Unsere Situation hatte sich verbessert: von zusammengekauert-im-Dunkeln-mit-drei-Gangstern-auf-den-Fersen, zu am-besten-dran-seit-wir-die-Insel-verlassen-hatten. Auch wenn Justin die Sache nicht gerade geschickt angefangen hatte, musste ich doch zugeben, dass sein Vorgehen uns weitergeholfen hatte. Stimmte mit mir irgendetwas nicht, weil ich mir immer noch wünschte, es wäre nicht passiert? Vielleicht war ich einfach zu zartbesaitet für diesen ganzen Survival-Kram. Klebte noch zu sehr an der Moral des Lebens, das ich hinter mir gelassen hatte, statt das Notwendige zu tun, um unsere jetzigen Leben zu erhalten.
Ich
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