Und wenn wir fliehen (German Edition)
Weihnachten.
»Gibt’s irgendwo einen Schlüssel?«, fragte Justin und sprang schon hinein. Die anderen Jungs folgten ihm, spähten durch die Autofenster, untersuchten die Reifen. Ich ging tiefer in die Scheune hinein. Dort parkte noch ein anderer Wagen: ein kleiner Dreitürer mit rostigen Stellen entlang der Stoßstange.
Die Welle der Begeisterung, die mich überrollt hatte, verwandelte sich mit einem Mal in ein unangenehmes Frösteln. Hier war nur Platz für diese zwei Autos, und ich hatte im Haus auch nicht den Eindruck gewonnen, dass die Familie wohlhabend genug war, um drei zu besitzen. Warum sollten sie zu Fuß weggegangen sein?
Vielleicht hatte ein Freund sie ins Krankenhaus gebracht. Oder womöglich hatten ein paar von ihnen es doch zurückgeschafft, waren losgelaufen, um in den Häusern der Nachbarn nach Essen zu suchen und hatten sich in dem Schneesturm, der uns hergeführt hatte, verirrt.
»Hab ihn!«, rief Gav vom hinteren Ende der Scheune. Der Schlüssel schlug klimpernd gegen seinen Schlüsselring, als er ihn vom Haken nahm. »Wollen wir mal sehen, ob das Ding auch funktioniert.«
Er sprang in den Truck und ließ ihn an. Der Motor begann zu rumpeln. »Noch ein Drittel Tankfüllung«, stellte er fest und lehnte sich heraus. »Damit und mit dem, was wir aus dem Lieferwagen abgesaugt haben, können wir ganz schön weit kommen.«
Der Geruch nach Auspuffgasen erfüllte die Luft, als Gav den Truck aus der Scheune fuhr. Er fummelte an den Schaltern herum, um den Pflug anzuheben und anschließend wieder herunterzulassen. »Echt klasse!«, rief Justin. Er kletterte auf den Beifahrersitz und sah nach hinten. »Und genug Platz für uns alle.«
Natürlich. Die Familie hatte einen Truck, in dem sie alle sitzen konnten: Mutter und Vater, Bruder und Schwestern. Das Foto aus dem Flur im ersten Stock tauchte wieder in meiner Erinnerung auf. Ich wandte mich vom Sonnenlicht ab.
Der Garagenbereich nahm nur einen Teil der Scheune ein. Nachdem sich meine Augen an den schummrigen Innenraum gewöhnt hatten, konnte ich in der Seitenwand eine weitere Tür erkennen. Ich stand eine Minute lang da, während die Jungs mit dem Pflug experimentierten. Das war der letzte Raum auf dem Anwesen, den wir noch nicht überprüft hatten.
Einen Moment lang sträubte ich mich innerlich dagegen, ohne richtigen Grund. Irgendwer musste schließlich nachsehen. Das konnte ja auch ich sein. Ich zwang meine Füße, sich zu bewegen, ging zu der Tür und zog sie auf.
Auf der anderen Seite sah ich eine Reihe leerer Pferdeboxen und dann einen hohen Raum. An der Wand stapelten sich Heuballen. Das Licht, das durch die schmalen Fenster fiel, ließ sie goldgelb schimmern. Ich machte, etwas entspannter jetzt, einen Schritt vorwärts, als mein Blick plötzlich an einem dunklen Fleck auf dem Betonboden hinter den Boxen hängenblieb.
Ein dunkler Fleck und, weiter im Schatten, die Rundung einer nach oben gewandten Hand.
Ich ging rasch an den ersten beiden Boxen vorbei und blieb dann mit einem Ruck stehen. Ich musste irgendeinen Laut von mir gegeben haben, doch ich hörte ihn nicht, spürte nur, wie ich mir die Hand vor den Mund schlug, als könnte ich den Schrei damit wieder hineinpressen. Als würde das, was ich da sah, dadurch weniger wirklich.
Die Hand auf dem Boden gehörte zu einer kleinen Gestalt, die den Kopf von mir weggedreht hatte und deren bläulich angelaufenes Gesicht von langem dunklen Haar umrahmt wurde. Hinten an der Wand lagen drei weitere Leichen auf rötlichen Flecken zwischen dem auf Boden verstreuten Heu. Zwei von ihnen hatten die Kapuzen ihrer Jacken aufgezogen und so ihre Gesichter verdeckt, die dritte jedoch, der Mann, lag ausgestreckt da, als hielte er mir die Hand hin, Haare und Kopf waren mit getrocknetem Blut verklebt und ein Revolver lag nur wenige Zentimeter von seinem ausgestreckten Arm entfernt.
Schritte hallten hinter mir über den Betonboden. Ich stolperte rückwärts, stützte mich am Rahmen der Pferdeboxen ab.
»Was ist passiert, Kae?«
Gavs Stimme klang, als käme sie von sehr weit weg, viel weiter als das Hämmern des Pulsschlags in meinem Kopf. Ich wirbelte herum.
»Hey«, sagte er, und seine Augen weiteten sich, als er meinen Gesichtsausdruck sah. Ich öffnete den Mund, um es ihm zu sagen, doch ein Schluchzen war alles, was herauskam. Er schlang die Arme um mich und zog mich zu sich. »Hey, egal was es ist, uns ist nichts passiert.«
Ihnen schon , dachte ich, während ich mich zitternd an ihn lehnte. Wir
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