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Und wenn wir fliehen (German Edition)

Und wenn wir fliehen (German Edition)

Titel: Und wenn wir fliehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Crewe
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hatten, gewesen. Trotzdem hatte ich den Song rauf und runter gehört, als ich zurück nach Toronto kam, und dabei immer daran gedacht, wie nah wir uns standen. Auch nach unserem Streit hörte ich ihn weiter, obwohl die Melodie mir manchmal die Tränen in die Augen trieb.
    »We’re on different orbits«, ging der Refrain, »but in the end we always meet again. We always meet again.« Und am Ende hatten wir uns wiedergesehen, auch wenn es unter ziemlich beschissenen Umständen war. Trotz der Unsicherheit, trotz der ganzen Gefühle – ausgesprochen wie unausgesprochen –, und obwohl wir uns beide irgendwie verändert hatten, war ich froh darüber. Als ich ihn ansah, überkam mich ein Rausch von Zuneigung, für den ich kein schlechtes Gewissen haben musste. Er war immer noch mein bester Freund. Und ich würde ihn nicht noch einmal verlieren.
    »Der Song ist gut«, sagte ich. »Ich wünschte, ich hätte da sein können, um deinen Tanz zu sehen.«
    Leo zögerte kurz und blickte sich im Zimmer um. »Ich könnte ihn dir zeigen, weißt du«, erwiderte er. Wenn ich den Sessel rüber an die Wand schiebe, ist genug Platz.«
    »Aber du hast keine Musik.«
    »Das dachte ich auch«, antwortete er. »Hab sie ganz schön vermisst. Aber dann hab ich gemerkt, dass sie noch da ist, hier oben.« Er tippte sich an die Stirn. »Das ist ein perfektes Kopfradio.«
    Ich musste grinsen. »Also gut, dann lass mal sehen.«
    Er schob den Sessel zur Seite und zog sich Socken und Pulli aus, so dass er barfuß und in Jeans und T-Shirt auf dem Holzfußboden stand. Dann ging er in die Hocke, die Arme locker herunterhängend, den Kopf vornübergebeugt. »Musik ab«, sagte er und summte die Anfangsmelodie des Songs. Im Geist hörte ich, wie die Gitarre anschwoll und sich zum Klavier gesellte. Und dann fing Leo an sich zu bewegen.
    Er streckte den Körper, sprang in die Höhe und begann im Kreis herumzuwirbeln, analog zu dem Gesang, der sich aus den Trommelschlägen heraus entwickelte, ließ sich dann wieder auf den Boden fallen, schien beinahe umzukippen, drehte sich jedoch zurück auf die Füße. Selbst wenn ich den Song nicht gekannt hätte, als ich ihm zusah, hätte ich ihn hören können.
    Der Rhythmus kam beim Aufkommen seines Körpers auf den Boden zum Ausdruck und mit jedem seiner Atemstöße; die Melodie mit dem Ablauf seiner Bewegungen. An der Stelle, an der normalerweise der Refrain eingesetzt hätte, wirbelte er sechs-, siebenmal herum, bevor er innehielt, sich vornüber fallen ließ und den Arm über dem Kopf in die Höhe streckte. Seine Hand sackte nach unten. Und ohne dass er etwas sagte, wusste ich, dass es nun zu Ende war.
    Er stand auf, schnappte nach Luft und grinste. Sein Gesicht glühte, und in seinen Augen stand ein Leuchten, wie ich es schon Jahre nicht mehr gesehen hatte. Seit dem letzten Mal, als ich ihn hatte tanzen sehen, wahrscheinlich. Ich wünschte, ich hätte es für immer dort festhalten können.
    Deshalb mussten wir die Dinge wieder in Ordnung bringen. Weil das Virus Leo umbringen würde in einer Welt, in der die Menschen vor lauter Angst, krank zu werden, nicht einmal miteinander sprachen, in der es keine Musik gab, kein Publikum, keine Bühnen. Genauso wie alle anderen, die so waren wie er, selbst wenn sie sich überhaupt nicht damit ansteckten.
    Ich war dermaßen fixiert auf ihn gewesen, dass ich die Gestalt, die die Treppe herunterkam, gar nicht bemerkte. »Wow«, sagte Justin und klatschte in die Hände. »Wie kriegst du das denn hin? Die Stelle, wo du direkt in die Drehung gesprungen bist – das war echt cool. Bist du etwa so ’n verkappter Ninja-Krieger, oder was?«
    Leo lachte, und in diesem Moment verzieh ich Justin, wenigstens einen Teil von dem, was er getan hatte.
    Ich sah aus dem Fenster, hatte irgendwie das Gefühl, dass mich jetzt auch dieser Anblick nicht enttäuschen würde. Doch die Luft hinter der Scheibe war immer noch voll Schnee.

    Irgendwann am Nachmittag fand Tobias ein Päckchen Karten in einer Schublade und setzte sich mit Leo und Justin ins Wohnzimmer, um Poker zu spielen. Ich wollte mich gerade zu ihnen gesellen, als Gav meine Hand nahm.
    »Komm her«, sagte er und sah mich an, als gäbe es sonst niemanden auf der Welt. Ein warmes Prickeln huschte mir plötzlich über die Haut.
    Ich folgte ihm nach oben in das Schlafzimmer, das wir uns geteilt hatten. Als wir eintraten und Gav mit dem Fuß die Tür zuschlug, bekam ich mit einem Mal ein seltsames Gefühl in der Magengegend: eine Mischung

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