Und wenn wir fliehen (German Edition)
aus Erregung, Nervosität und Unsicherheit.
Er küsste mich, und die Nervosität verschwand. Ich trat einen Schritt zurück, so dass ich mit den Schultern an der Wand lehnte, zog ihn mit mir, verfing mich mit den Fingern in seinen Haaren. Er küsste mich wieder, erst auf den Mund, anschließend auf die Wange und seitlich auf den Hals.
»Weißt du«, raunte er, »wenn es eins gab, auf das ich mich gefreut hatte, als wir beide quer durchs Land losziehen wollten, war das, mit dir allein zu sein. Ich bin ganz schön enttäuscht darüber, was nun daraus geworden ist.«
»Und was dachtest du, was wir tun würden, wenn wir ganz allein wären?«, fragte ich und zog die Augenbrauen hoch.
Statt zu antworten, beugte er sich vor und strich mit seinen Lippen über meine. Was vielleicht schon eine Antwort war. Als der Kuss intensiver wurde, glitt seine Hand um meine Taille und fuhr unter meinem Pulli auf der Haut entlang. Hitze stieg in mir auf, von der Stelle, wo unsere Körper sich berührten bis hoch in den Kopf und wieder hinab zu den Füßen. Der Schnee und der Wind und unser magerer Lebensmittelvorrat entschwanden in weite Ferne. Ein Teil von mir, und zwar ein ziemlich großer, wollte mit ihm verschmelzen, hinüber zum Bett stolpern und mich von dem Augenblick weit wegtragen lassen.
Doch während alles andere fortglitt, spürte ich noch immer, wie sich in meinen Gedanken der lange Weg, der vor uns lag, endlos zog. Wie eine Leine, die an mir zerrte, selbst dann, wenn ich mich nicht bewegen konnte. Und mitten in meiner Brust befand sich ein festsitzender kleiner Knoten.
Meine Arme legten sich enger um Gav. Ich küsste ihn intensiver. Seine Hände schoben sich meinen Rücken hinauf, und ich hatte eigentlich nicht vor, sie aufzuhalten. Doch der Knoten wollte sich nicht lösen. Als ich versuchte ihn zu ignorieren, zog er sich nur noch enger zusammen.
Ich senkte den Kopf und lehnte mich an Gav, vergrub das Gesicht in seiner Halsbeuge. Sein Herz schlug noch schneller als meines.
»Kae?«, sagte er, und dann: »Ich hab nicht … ich meine – ich wollte dich nicht drängen.«
»Ich weiß«, antwortete ich schnell. »Es ist bloß … Ich hab einfach zu viel im Kopf. Zu viele Sorgen, die keine Ruhe geben wollen. Kann ich, na ja, vielleicht so was wie einen Gutschein kriegen? Solange bis wir fertig sind, den Impfstoff übergeben haben und das Ganze vorbei ist?«
Gav lachte und umarmte mich. »Ist das ein Versprechen?«, flüsterte er mir ins Ohr. Da legte ich den Kopf gerade so weit zurück, dass ich ihn als Antwort küssen konnte.
Und vor dem Schlafzimmerfenster fiel weiter der Schnee vom Himmel.
Drei Tage später tobte der Blizzard noch immer. Von Zeit zu Zeit lichteten sich die Schneeflocken gerade so viel, dass wir die schwankenden Bäume an der Straße erkennen konnten, doch bald schon waren sie wieder verschwunden. Und der Wind hörte keine Sekunde auf zu heulen.
»Ich hatte keine Ahnung, dass ein Sturm so lange dauern kann«, sagte ich, als wir zusammen am Esstisch saßen und zu Mittag aßen. Beziehungsweise das, was derzeit als Mittagessen durchgehen musste. Meins bestand aus einer Dose Thunfisch. Das war nicht viel, aber wenn wir normal gegessen hätten, wären unsere Vorräte mittlerweile schon aufgebraucht gewesen.
»Als Kind hab ich mal ein paar Jahre oben im Norden gewohnt«, erzählte Tobias. »Von daher weiß ich, dass das gar nicht so ungewöhnlich ist.«
Der Thunfisch blieb mir im Hals stecken, aber ich quälte ihn mir irgendwie runter. Ich gab mir Mühe, nicht an den winzigen Stapel Dosen zu denken und an die wenigen Feldrationen, die Tobias vom Armeestützpunkt mitgebracht hatte. Leos Fallen waren bei diesem Wetter nutzlos. Ich ertappte mich dabei, wie ich die Papierbanderole auf der Dose beäugte und mich fragte, ob darin irgendwelche Nährstoffe enthalten waren. Oder vielleicht in dem gefrorenen Gras draußen.
Mägen waren anpassungsfähig. Koalas konnten sich komplett von giftigen Blättern ernähren. Sie hatten allerdings Hunderte von Jahren Zeit gehabt, sich entsprechend anzupassen, wir hingegen hatten nur eine Woche.
»Wenn das noch viel länger dauert, könnten wir versuchen, eins der Häuser in der Nähe zu erreichen und da nach weiteren Lebensmitteln suchen«, schlug Gav vor, aber keiner von uns hatte auch nur entfernt die Umrisse eines benachbarten Gebäudes erkennen können, seit der Sturm angefangen hatte. Das Seil, das wir benutzten, um an das Feuerholz zu gelangen, würde auf keinen
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