Und wenn wir fliehen (German Edition)
sich die Tür zum Treppenhaus einen Spalt breit. Wer immer dahinterstand, sie mussten uns gesehen haben, denn plötzlich bewegte sich die Tür nicht mehr weiter.
Es gab keine Möglichkeit mehr, sich zu verstecken, nicht, wenn sie uns schon so weit gefolgt waren. Wir konnten nur hoffen, dass sie keine bösen Absichten hatten.
»Was wollen Sie von uns?«, fragte ich. »Kommen Sie raus, dann können wir darüber reden.«
Die Tür schwang ein bisschen hin und her und ging dann weiter auf. Eine Gestalt mit Kapuze und langer schwarzer Jacke schlüpfte in den Flur.
»Nicht böse sein. Ich wollte bloß mal sehen, was ihr vorhabt.«
Es war die leise piepsige Stimme eines Mädchens. Sie kam ein paar Schritte auf uns zu und setzte ihre Springerstiefel dabei so sachte auf, dass sie keinen Laut von sich gaben. Dann schob sie ihre Kapuze zurück.
Sie war älter, als ihre Stimme geklungen hatte – älter als ich vermutlich. Sie hatte eine winzige Stupsnase, glich deren mäuschenhafte Wirkung aber durch dunklen Lidschatten und violetten Lippenstift wieder aus. Um ihr schmales Gesicht fiel hellbraunes, mit blonden Strähnen durchzogenes Haar. Sie sah aus, als gehörte sie in die Warteschlange eines Nachtclubs und nicht wie jemand, der uns durch ein verlassenes Mietshaus hinterherschlich.
»Ich hab euch im Mount Sinai gesehen«, sagte sie. »Ihr saht … nett aus. Nicht so wie die meisten Leute zurzeit.«
Mount Sinai kam mir bekannt vor, doch ich hatte noch nicht einmal darauf geachtet, wie lange es her war, dass wir in diesem Krankenhaus gewesen waren.
»Gibt ’ne ganze Menge Arschlöcher in der Gegend«, erwiderte Justin und beobachtete sie, als befürchtete er, wir müssten gleich einen Kampf auf Leben und Tod mit ihr austragen. »Mit denen wollen wir nichts zu tun haben.«
Das Mädchen antwortete mit einem Lächeln, das sowohl Belustigung als auch Verständnis hätte ausdrücken können. »Ich bin Anika«, stellte sie sich vor und streckte dabei die Hände aus, als wollte sie um etwas bitten. Ihre Fingernägel hatten die gleiche Farbe wie ihre Lippen. »Ich will mich nicht aufdrängen, aber das Leben in der Stadt ist so grausam geworden. Ich bin schon seit Wochen ganz allein. Und ihr scheint alle irgendwie zusammenzuhalten. Ich habe gehofft, ich könnte vielleicht bei euch bleiben. Ein Weilchen?«
Sie zog den Kopf ein, wobei ihre Ängstlichkeit eher aufgesetzt als authentisch wirkte. Tobias öffnete den Mund und sah mich an. Justin machte ein finsteres Gesicht.
»Trägst du irgendwelche Waffen?«, fragte Leo.
Anika kniff scheinbar ehrlich überrascht die Augen zusammen. Sie kehrte ihre Taschen nach außen, öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und hielt sie weit auf, damit wir sehen konnten, dass sie nichts anderes darunter versteckte als einen lila Rollkragenpulli und eine Jeans, die so eng war, dass es ziemlich offensichtlich gewesen wäre, wenn sie eine Pistole oder ein Messer hineingesteckt hätte.
»Vielleicht könnte ich euch sogar ein wenig behilflich sein«, bot sie an, während sie den Reißverschluss wieder hochzog. »Ich war die ganze Zeit hier – also, ich wohne hier schon mein Leben lang. Ihr sucht doch nach etwas. Könnte ja sein, dass ich weiß, wo ihr es findet.«
Mein Herzschlag setzte kurz aus. Unter Umständen war sie genau das, was wir brauchten. Ob sie uns nun die Wahrheit sagte oder nicht, sie machte jedenfalls keinen gefährlichen Eindruck. Und sie war allein, und wir waren zu viert – bewaffnet, größer und wahrscheinlich stärker.
Es war das Risiko wert.
»In Ordnung«, sagte ich. Wir wohnen ein Stockwerk tiefer.«
Als wir die Wohnung betraten und Anika das Ledersofa, die Granitarbeitsplatten und das knisternde Feuer erblickte, wurden ihre Augen noch größer. Erleichtert sah ich, dass das ganze Essen, das wir erbeutet hatten, sicher in den Schränken verstaut war. Die Kühlbox würde im Schlafzimmer bei Gav bleiben, was mir umso besser erschien, weil dann auch Justin gar nicht erst in Versuchung kam.
Ich wollte gerade vorschlagen, dass wir uns alle hinsetzen und uns unterhalten sollten, als ein Husten durch die Schlafzimmertür drang. Anika blieb angespannt stehen, und ihr Kopf zuckte in die Richtung.
»Ihr habt ja einen Kranken hier«, sagte sie.
»Ja«, antwortete ich steif.
»Das ist schon okay«, erklärte Tobias. »Er bleibt die ganze Zeit im Schlafzimmer. Wir sind echt vorsichtig.«
»Bin gleich wieder da«, sagte ich und schnappte mir eine der Flaschen mit abgekochtem
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