Und wenn wir fliehen (German Edition)
müssen. Das hier ist mein Job, es geht um die Impfstoffproben meines Dads, und es wird langsam Zeit, dass du das kapierst. Sonst kannst du dir nämlich bald andere Leute suchen, an die du dich ranhängst.«
Als ich fertig war, hatte ich einen ganz rauen Hals von der kalten Winterluft. Ich wollte mich umdrehen, damit die Spannung sich etwas löste, aber ich konnte nicht, noch nicht. Er musste endgültig einsehen, dass seine Provokationen und sein Kampfgehabe jetzt ein Ende hatten. Es stand zu viel für uns auf dem Spiel, als dass wir noch einen weiteren Fehler riskieren konnten.
Justins Gesicht war leichenblass geworden. Er blinzelte mit offenstehendem Mund, und dann war er derjenige, der sich abwandte. Ich holte tief Luft, entspannte die Finger, die ich in meine Handflächen gekrallt hatte, und fühlte mich plötzlich ganz schwach auf den Beinen.
»Kommt, wir holen noch ein paar von diesen Zweigen«, sagte Leo. Er warf mir einen kurzen Blick zu, und ich nickte zum Zeichen, dass es mir gutging. Als er und Justin zurück zu den Bäumen marschierten, stellte ich die Töpfe ab, die ich schon gefüllt hatte, um mir einen Eimer zu holen, den ich zuvor auf einer Veranda gesehen hatte. Er war leer und schien mir sauber genug, wenn man bedachte, dass wir das Wasser sowieso abkochen würden. Ich trug ihn zurück zum Park und packte ihn voll Schnee.
»Ich glaub nicht, dass wir noch mehr tragen können«, sagte Leo, der ein großes Bündel Zweige und Stöcke anschleppte. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er Justin.
»Ja«, antwortete der leise. Auf dem Rückweg zum Apartmenthaus sagte er nichts. Als wir an der Tür zu der Wohnung ankamen, die wir in Beschlag genommen hatten, zögerte er. Leo ging schon hinein, während ich stehen blieb und mich zu ihm umschaute.
»Es tut mir leid«, sagte Justin. Sein Blick war auf den Fußboden gerichtet. »Du hast recht. Es war dumm von mir. Aber du verstehst das nicht.«
Er schluckte. »Mein Dad … er wollte damals bloß nachsehen, ob es im Lebensmittelladen noch etwas zu essen gibt, da hat so ein Kerl ihn einfach erschossen. Und ich war nicht da, um ihm zu helfen, weil er mich zu Hause bei Mom gelassen hatte, wie ein kleines Kind. So will ich nicht mehr sein, wie irgendein Kind, das wegläuft und sich versteckt. Aber ich glaube, ich hab nicht nachgedacht. Die Leute dumm anzumachen ist auch nicht gerade ’ne superreife Nummer. Ich raste dann eben immer aus, weißt du, und ich will unbedingt etwas tun .«
Ich lehnte am Türrahmen. »Tut mir leid wegen deinem Dad«, sagte ich und meinte es auch so. »Das wusste ich nicht.« Er hatte ihn erwähnt, und ich hatte ihn nie in der Künstlerkolonie gesehen, aber ich war gar nicht auf die Idee gekommen, weiter nach ihm zu fragen.
»Na ja, wahrscheinlich hätte ich auch nichts für ihn tun können, wenn ich da gewesen wäre.«
Ich dachte an Merediths tränenverschmiertes Gesicht, als sie mich anflehte, sie nicht zurückzulassen. Stellte sie mir dann hier vor, zwischen all den Toten und Plünderern. Sie hatte befürchtet, ich würde sie in der Kolonie lassen, weil ich sie nicht für tapfer genug hielt, aber Tatsache war, dass ich nicht mit der Schuld hätte leben können, wenn ich sie bei mir behalten hätte und dann nicht in der Lage gewesen wäre, sie zu schützen.
»Wer immer deinen Dad umgebracht hat, er hätte dich auch getötet, wenn du da gewesen wärst«, sagte ich. »Dein Dad hat dich sicher deshalb zu Hause gelassen, weil du ihm sehr viel bedeutet hast und er nicht wollte, dass dir was passiert. Du bist doch deswegen nicht etwa böse auf ihn, oder?«
»Ich … von der Seite hab ich es bisher nie betrachtet.« Justin hob den Kopf. »Bist du noch sauer auf mich?«
»Wirst du nächstes Mal auf mich hören, wenn ich sage, du sollst dich zurückhalten?«
Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. »Ja«, antwortete er. »Ich werd’s versuchen.«
»Dann bin ich nicht mehr sauer«, sagte ich. »Aber ich friere und ich hab genug davon, diesen ganzen Schnee mit mir herumzutragen. Also lass uns reingehen und sehen, ob wir die Bude bewohnbar machen können.«
Als wir eintraten, schallte Gavs Husten durch die Schlafzimmertür den Flur entlang.
Zweiundzwanzig
In den kommenden Tagen entwickelten wir eine gewisse Routine. Morgens marschierten Leo und ich zu ein paar Kliniken oder Krankenhäusern, während Tobias und Justin die anderen Stockwerke des Apartmenthauses nach etwas Brauchbarem durchforsteten. Dann trafen wir uns alle wieder in
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