Undank Ist Der Väter Lohn.
er inzwischen weiß, daß ich Ihnen gesagt hab, was er in Wirklichkeit für Geschäfte macht. Wie geht’s ihr? Wie geht’s Vi? Lassen Sie mich zu ihr. Ich muß zu ihr.«
Ihre Stimme schwoll hysterisch an, und die Schwester fragte, ob »diese Person« eine Verwandte der Patientin sei. Shelly nahm ihre Sonnenbrille ab und warf Lynley einen flehenden Blick aus blutunterlaufenen Augen zu.
»Sie ist ihre Schwester«, erklärte Lynley der Pflegerin und nahm Shelly beim Arm. »Sie hat Besuchserlaubnis.«
Drinnen stürzte Shelly zum Bett, wo eine andere Schwester gerade dabei war, Vi Nevins Gesicht neu zu verbinden, während sich der Chirurg am Becken die Hände wusch und dann hinausging. Shelly begann zu weinen. »Vi! Vi!« jammerte sie, »Vi, Schätzchen, ich hab das doch alles gar nicht so gemeint. Nicht ein einziges Wort.« Sie nahm die schlaffe Hand, die reglos auf der Bettdecke lag, und drückte sie an ihr Herz, als wollte sie so ihren Beteuerungen Nachdruck verleihen. »Was ist denn los mit ihr?« fuhr sie die Schwester an. »Was haben Sie mit ihr gemacht?«
»Sie hat ein Beruhigungsmittel bekommen, Miss.« Die Schwester verzog mißfällig den Mund, während sie den Verband befestigte.
»Aber sie kommt doch wieder in Ordnung, oder?«
Lynley warf der Schwester einen Blick zu, bevor er sagte: »Sie wird wieder ganz gesund werden, ja.«
»Aber ihr Gesicht! Die ganzen Verbände. Was hat er mit ihrem Gesicht gemacht?«
»Er hat ihr Gesicht durch Schläge verunstaltet.«
Shelly Platt begann heftiger zu schluchzen. »Nein. Nein! Ach, Vi! Das tut mir so leid. Das hab ich echt nicht gewollt, daß dir so was passiert. Ich war sauer, weiter nichts. Du kennst mich doch.«
Die Schwester rümpfte die Nase über diesen Gefühlsausbruch. Sie ging aus dem Zimmer.
»Sie wird plastische Operationen brauchen«, sagte Lynley zu Shelly, als sie allein waren. »Und dann ...« Er suchte nach den richtigen Worten, um der jungen Frau taktvoll klarzumachen, was Vi Nevin wahrscheinlich von der Zukunft zu erwarten haben würde. »Sie wird sehr wahrscheinlich nicht mehr die gleichen beruflichen Möglichkeiten haben wie vorher.« Er wartete, um zu sehen, ob Shelly verstand oder eine deutlichere Erklärung brauchte. Sie selbst war zwar nicht hübsch, aber sie kannte das Gewerbe und würde wissen, was ein durch Narben entstelltes Gesicht für eine Frau bedeutete, die sich ihren Lebensunterhalt damit verdient hatte, daß sie für ihre Freier die Lolita spielte.
Shelly sah mit gequältem Blick auf ihre Freundin hinunter.
»Dann sorge ich eben für sie. Von jetzt an jede Minute. Ich sorge schon für meine Vi.« Sie küßte Vi Nevins Hand und umklammerte sie fester, und ihre Tränen flossen noch reichlicher.
»Sie braucht jetzt Ruhe«, sagte Lynley.
»Aber ich gehe nicht. Ich bleib hier, bis Vi wach wird. Sie soll wissen, daß ich hier bin.«
»Sie können draußen beim Constable warten. Ich werde ihm sagen, daß er Sie jede Stunde einmal ins Zimmer lassen soll.«
Nur widerstrebend ließ Shelly Vi Nevins Hand los. Im Korridor sagte sie: »Sie schnappen sich das Schwein doch, oder? Sie sorgen doch dafür, daß er in den Knast kommt?«
Und diese beiden Fragen hatten Lynley den ganzen Weg bis zum Yard nicht mehr losgelassen.
Alles sprach dafür, daß Martin Reeve derjenige war, der Vi Nevin überfallen hatte. Er hatte Motiv, Mittel und Gelegenheit gehabt. Er lebte auf großen Fuß und hatte eine Frau, deren Drogensucht eine Menge Geld verschlang. Er konnte es sich nicht leisten, Einkommenseinbußen hinzunehmen. Wenn eines seiner Mädchen es schaffte, auszubrechen und sich selbstständig zu machen, war zu fürchten, daß andere es ihr nachtun würden. Und wenn er das zuließ, würde er bald ganz aus dem Geschäft raus sein. Denn für das Geschäft der Prostitution waren nur die Prostituierten selbst und ihre bereitwilligen Freier notwendig. Vermittler, wie Zuhälter, waren entbehrlich. Und das wußte Martin Reeves. Um seine Frauen bei der Stange zu halten, mußte er mit abschreckendem Beispiel und Einschüchterung arbeiten: indem er ihnen zeigte, wie weit er zu gehen bereit war, um seine Interessen zu schützen, und indem er keinen Zweifel daran ließ, daß das böse Ende, das die eine nahm, leicht auch der nächsten blühen konnte. An Vi Nevin hatte er ein Exempel statuiert. Blieb noch die Frage, ob er das gleiche mit Nicola Maiden und Terry Cole getan hatte.
Es gab eine Methode, um das herauszufinden: Man mußte Reeve ohne Anwalt an
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