Undank Ist Der Väter Lohn.
man sie nicht gleich an die Luft gesetzt hatte, war Barbara angesichts der Feindseligkeit Hilliers ein Rätsel. Während seines ganzen Vortrags hatte sie sich innerlich auf die unvermeidliche Entlassung vorbereitet, aber die war ausgeblieben. Sie war gemaßregelt, niedergemacht und aufs übelste beschimpft worden. Aber sie war nicht entlassen worden. Es war sonnenklar, daß Hillier es ebensosehr genossen hätte, sie vor die Tür zu setzen, wie er es genossen hatte, sie abzukanzeln. Daß er es nicht getan hatte, konnte nur heißen, daß jemand mit Einfluß sich auf ihre Seite geschlagen hatte.
Barbara wollte gern dankbar sein. Sie wußte, daß Dankbarkeit angebracht war. Aber in diesem Augenblick fühlt sie sich nur verraten – von ihren Vorgesetzten, vom Disziplinarausschuß, von der Dienstaufsichtsbehörde. Keiner von denen hatte die Dinge so gesehen wie sie. Sie hatte geglaubt, wenn erst einmal die Fakten vorlägen, würde jeder erkennen, daß sie gar keine andere Wahl gehabt hatte, als zur nächsten Waffe zu greifen und zu schießen, um ein Menschenleben zu retten. Aber die, die am Drücker saßen, hatten es eben nicht so gesehen. Bis auf einen. Und sie konnte sich vorstellen, wer das war.
Inspector Thomas Lynley, ihr langjähriger Dienstpartner, war auf seiner Hochzeitsreise gewesen, als Barbara in Schwierigkeiten geraten war. Und als er nach zehn Tagen auf Korfu nach Hause gekommen war, hatte er als erstes gehört, daß Barbara vom Dienst suspendiert und ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet worden war. Wie vor den Kopf geschlagen, war er noch am selben Abend quer durch die Stadt zu Barbara gefahren, um sich von ihr selbst berichten zu lassen. Und wenn auch dieses Gespräch nicht so reibungslos verlaufen war, wie Barbara es sich gewünscht hätte, hatte sie doch im Innern gewußt, daß Inspector Lynley letztendlich niemals tatenlos zusehen und Unrecht geschehen lassen würde, wenn er es irgendwie verhindern konnte.
Er wartete jetzt wahrscheinlich in seinem Büro, um von ihr zu hören, wie das Gespräch mit Hillier verlaufen war. Und sobald sie sich einigermaßen erholt hatte, würde sie zu ihm gehen.
Leute kamen in die Bibliothek. Eine Frau sagte: »Glaub mir, er ist in Glasgow geboren, Bob. Ich erinnere mich genau an den Fall.«
»Ach, du spinnst doch«, entgegnete Bob. »Er ist in Edinburgh geboren.«
»In Glasgow«, beharrte die Frau. »Ich werd’s dir beweisen.«
Beweisen hieß, alte Berichte zu wälzen, die in der Bibliothek aufbewahrt wurden. Und das wiederum hieß, daß Barbara nicht länger allein sein würde.
Sie verließ die Bibliothek und ging über die Treppe nach unten, um sich noch ein wenig Zeit zu lassen und sich zu überlegen, wie sie Lynley für sein Eingreifen danken wollte. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie er das über sich gebracht hatte. Er und Hillier gingen bei jeder Gelegenheit wie die Kampfhähne aufeinander los, er mußte also jemanden, der noch höher stand als Hillier, um Schützenhilfe gebeten haben. Sie wußte, was ihn das an Stolz gekostet haben mußte. Ein Mann wie Lynley war es nicht gewöhnt, als Bittsteller vor jemanden zu treten. Und vor jemandem, der ihm seine adelige Geburt neidete, mußte das besonders hart gewesen sein.
Sie fand ihn in seinem Büro im Victoriablock. Sein Sessel war zum Fenster gedreht, so daß er mit dem Rücken zur Tür saß. Er telefonierte. »Hör zu, mein Schatz«, sagte er gerade in heiterem Ton, »wenn Tante Augusta uns besuchen will, weiß ich nicht, wie wir das abbiegen sollen. Es ist ungefähr so, als wollte man einen Taifun aufhalten ... Hm, ja. Aber vielleicht können wir wenigstens verhindern, daß sie das ganze Mobiliar umstellt, wenn Mutter wirklich mitkommt.« Er schwieg und lachte dann über irgend etwas, das seine Frau am anderen Ende der Leitung sagte: »Ja. In Ordnung. Die Schränke erklären wir gleich im voraus zum Sperrgebiet ... Danke dir, Helen ... Ja. Natürlich meint sie es gut.« Er drehte seinen Sessel zum Schreibtisch zurück und legte auf.
Als er den Kopf hob, sah er Barbara an der Tür stehen. »Havers«, sagte er überrascht. »Hallo! Was tun Sie denn heute morgen hier?«
Sie trat ein und sagte: »Ich habe meine Standpauke von Hillier bekommen.«
»Und?«
»Ein Brief in meiner Akte und ein fünfzehnminütiger Vortrag, den ich am liebsten sofort vergessen würde. Denken Sie an Hilliers Vorliebe dafür, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und alles kurz und klein zu schlagen, dann wissen Sie in
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