Undank Ist Der Väter Lohn.
allgemein etwas weiblich Zartes, dem er offenbar entgegenzuwirken versucht hatte, indem er sich einen kleinen Spitzbart hatte wachsen lassen. Blut aus zahlreichen Wunden bedeckte seinen Körper und das dünne schwarze T-Shirt, über dem er weder Pullover noch Jacke anhatte. Die schwarzen Jeans waren an den Stellen, die am meisten strapaziert waren, ausgebleicht: an den Nähten, den Knien, dem Gesäß. An den übergroßen Füßen trug er schwere Stiefel, wahrscheinlich Doc Martens.
Unter diesen Stiefeln, halb versteckt von dem Schlafsack, den der Polizeifotograf vorsichtig zur Seite geschoben hatte, um den Toten abbilden zu können, lagen einige Blätter Papier, blutbefleckt und schlaff von der feuchten Luft. Hanken ging in die Knie, um sie sich genauer anzusehen, trennte sie behutsam mit der Spitze eines Bleistifts, den er aus seiner Tasche holte. Es waren anonyme Briefe der gängigen Art, mit simpler Formulierung und kreativer Rechtschreibung, zusammengesetzt aus Buchstaben und Wörtern, die aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten waren. Der Inhalt war stets der gleiche: Todesdrohungen, wobei die angekündigten Todesarten unterschiedlich waren.
Hanken richtete seinen Blick auf den Jungen. Erfragte sich, ob man logisch folgern könne, daß der Junge der Empfänger der Briefe war und nun das Ende gefunden hatte, das ihm mit den Botschaften prophezeit worden war. Diese Folgerung wäre durchaus plausibel gewesen, hätte nicht das Innere des alten Steinkreises eine ganz andere Geschichte erzählt.
Hanken richtete sich auf und verließ die Lichtung.
»Durchkämmen Sie den gesamten Umkreis«, wies er seine Leute an. »Wir suchen eine zweite Leiche.«
3
Barbara Havers von New Scotland Yard fuhr mit dem Aufzug in die zwölfte Etage des Tower-Block-Gebäudes hinauf. Dort oben war die umfangreiche Bibliothek der Metropolitan Police, und sie wußte, daß sie inmitten der Regale voller Nachschlagewerke und Polizeiberichte sicher sein würde. Und Sicherheit brauchte sie gerade jetzt dringend. Außerdem mußte sie eine Weile ungestört sein, um ihre Fassung wiederzufinden.
Neben den Unmengen von Büchern, die kein Mensch zählen, geschweige denn lesen konnte, bot die Bibliothek im ganzen Haus den schönsten Blick auf London. Im Osten umfaßte dieser weite Blick alles von den neugotischen Türmen der Parlamentsgebäude bis zum Südufer der Themse. Im Norden reichte er zur gewaltigen Kuppel der Paulskathedrale, die die Skyline der City dominierte. Doch an einem Tag wie diesem, wenn das grelle Licht des Sommers endlich in den milden Glanz des Herbstes überging, war man weniger von dem überwältigenden Panorama als von der Schönheit beeindruckt, die über allem lag, was von diesem Licht berührt wurde.
Hier oben, meinte Barbara, würde es ihr, wenn sie sich darauf konzentrierte, möglichst viele der unter ihr befindlichen Gebäude zu identifizieren, vielleicht gelingen, sich zu beruhigen und die Demütigung zu vergessen, die sie eben erfahren hatte.
Nach dreimonatiger Suspendierung vom Dienst, die schönfärberisch als Urlaub bezeichnet worden war, hatte sie an diesem Morgen um halb acht endlich einen wortkargen Anruf erhalten. Die freundliche Aufforderung war im Grunde ein klarer Befehl gewesen. Würde Sergeant Barbara Havers so freundlich sein, heute um zehn Uhr Assistant Commissioner Sir David Hillier in seinem Büro aufzusuchen? Die Stimme war ausgesucht höflich und ausgesucht neutral, um nur ja nicht durchschimmern zu lassen, was hinter dieser Aufforderung steckte.
Aber Barbara war ziemlich klargewesen, was sie zu bedeuten hatte. Seit zwölf Wochen lief gegen sie ein Ermittlungsverfahren der Polizeiaufsichtsbehörde, und nachdem die Staatsanwaltschaft die Einleitung eines Strafverfahrens gegen sie abgelehnt hatte, hatten die Mühlen der Abteilung für innere Angelegenheiten der Metropolitan Police zu mahlen begonnen. Zeugen, die über ihr Dienstverhalten Auskunft geben konnten, wurden vernommen und ihre Aussagen protokolliert. Das Beweismaterial – ein Schnellboot, ein MP5-Karabiner und eine Glock-Halbautomatik – wurden geprüft und bewertet. Die Entscheidung über Barbaras Schicksal hätte schon lange verkündet werden müssen.
Als der Anruf endlich kam und sie aus unruhigem Schlaf riß, hätte sie eigentlich vorbereitet sein müssen. Schließlich hatte sie den ganzen Sommer gewußt, daß zwei Aspekte ihres Verhaltens im Dienst streng geprüft wurden. Angesichts einer möglichen Anklage wegen
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