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Undank Ist Der Väter Lohn.

Undank Ist Der Väter Lohn.

Titel: Undank Ist Der Väter Lohn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Tatort ziemlich abgelegen und nicht anders zu erreichen als zu Fuß, mit dem Mountainbike oder einem Hubschrauber. Angesichts dieser begrenzten Möglichkeiten hatte Hanken ein paar Leuten von der Bergrettung, die ihm noch etwas schuldeten, Dampf gemacht und einen Hubschrauber der RAF ergattert, der gerade von einer Suchaktion nach zwei Wanderern im Dark Peak zurückgekehrt war. Mit diesem Hubschrauber ließ er sich jetzt nach Nine Sisters Henge hinausbefördern.
    Der Nebel war nicht besonders dicht, und als sie sich dem Tatort näherten, konnte er die Blitzlichter des Polizeifotografen sehen, der unten seine Bilder machte. Südöstlich der Bäume erkannte er eine kleine Gruppe Menschen – Pathologen und Biologen, uniformierte Beamte, Leute von der Spurensicherung –, sie alle warteten darauf, daß der Fotograf seine Arbeit beenden würde. Und sie warteten auf Hanken.
    Hanken bat den Hubschrauberpiloten, vor der Landung noch einen Moment über dem Birkenwäldchen in der Luft zu bleiben. Aus einer Höhe von 75 Metern – hoch genug, um unten nicht die Beweisstücke durcheinanderzuwirbeln – konnte er erkennen, daß die alte Kultstätte als Lagerplatz benutzt worden war. Ein kleines, blaues Zelt wölbte sich an der Nordflanke eines der Steine, und in der Mitte des Kreises lag schwarz und rund wie die Pupille eines Auges eine ausgebrannte Feuerstelle. Auf dem Boden lagen eine silberne Wärmedecke und, nicht weit von ihr entfernt, eine quadratische Sitzmatte in leuchtendem Gelb, ein schwarz-roter Rucksack, dessen Inhalt rundherum verstreut war, und ein kleiner Campingherd, der auf die Seite gekippt war. Aus der Luft sah es ganz harmlos aus. Tja, dachte Hanken, Entfernung schafft immer ein Gefühl trügerischer Sicherheit.
    Der Hubschrauber landete etwa fünfzig Meter südöstlich des Wäldchens. Hanken rannte geduckt unter den Rotorblättern hindurch und erreichte seine Leute gerade in dem Moment, als der Fotograf aus dem Birkenhain trat. »Scheußlich«, sagte der nur.
    »Gut«, sagte Hanken zu seinem Team. »Warten Sie hier.« Er schlug mit der Hand gegen den Pfeiler, der den Zugang zum Steinkreis markierte, und machte sich allein auf den Weg unter den Bäumen hindurch, von deren Laub die Nässe des Nebels auf ihn herabtropfte.
    Am Eingang zu Nine Sisters Henge blieb Hanken stehen und ließ seinen Blick schweifen. Aus der Nähe erkannte er, daß es sich bei dem Zelt um ein Einmannzelt handelte. Das paßte zu dem, was sonst an Ausrüstungsgegenständen auf der Lichtung zu sehen war: ein Schlafsack, ein Rucksack, eine Wärmedecke, eine Sitzmatte. Was er aus der Luft nicht hatte ausmachen können, das sah er jetzt: eine offene Kartentasche, deren Inhalt halb zerrissen war; eine Isomatte, die zusammengeknüllt neben dem Rucksack lag; zwei kleine Wanderstiefel, der eine in der schwarzen Asche der Feuerstelle, der andere nicht weit davon. Und an all diesen Gegenständen klebten feuchte weiße Federn.
    Als Hanken nach einer Weile in den Steinkreis eintrat, unterzog er zunächst, wie er das immer tat, den Tatort einer genauen Inspektion. Vor jedem sichtbaren Gegenstand blieb er stehen und betrachtete ihn aufmerksam, ohne sich Gedanken über mögliche Erklärungen zu machen. Die meisten Kollegen, die er kannte, pflegten schnurstracks zur Leiche zu gehen. Aber er war überzeugt, daß der Anblick eines Toten, der durch menschliche Gewalt gestorben war, so traumatisch war, daß er nicht nur die Sinne betäubte, sondern auch den Verstand. So war man der Fähigkeit beraubt, die Wahrheit zu erkennen, selbst wenn sie offen vor einem lag. Darum musterte er jetzt langsam einen Gegenstand nach dem anderen, ohne ihn anzurühren. Auf diese Weise prüfte er jedes Stück, das Zelt, den Rucksack, die Matte, die Kartentasche und die übrigen Ausrüstungsgegenstände – von Socken bis zu Seife –, die auf der Lichtung verstreut lagen. Die meiste Zeit nahm er sich für ein Flanellhemd und die Stiefel. Und erst als er genug gesehen hatte, wandte er sich der Leiche zu.
    Sie war schrecklicher anzusehen als viele andere, die er im Lauf der Jahre zu Gesicht bekommen hatte, die Leiche dieses Jungen, der höchstens neunzehn oder zwanzig Jahre alt gewesen war. Er war mager, irgendwie ausgezehrt, mit zarten Handgelenken, zierlichen Ohren und der wachsbleichen Haut der Toten. Obwohl die eine Gesichtshälfte stark verbrannt war, konnte Hanken erkennen, daß der Junge eine schmalrückige, kleine Nase gehabt hatte und einen wohlgeformten Mund, ganz

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